Sie ist eine der jüngsten Hochschulgruppen auf dem Campus der Universität Erfurt und eigentlich auch noch mitten im Aufbau. In unserem Campusblog stellen die Initiator*innen von „Neuro-Spectrum“ ihre Hochschulgruppe schon einmal vor…
Für all diejenigen, die bislang mit dem Thema noch nicht in Berührung gekommen sind: Was genau meint „Neuro-Spectrum“?
Einfach beschrieben könnte man sagen, dass die Gehirne neurodivergenter Personen mit einem anderen „Betriebssystem“ funktionieren als die Gehirne neurotypischer Menschen. Neurodivergente Menschen verarbeiten dadurch Informationen, Sinneseindrücke, Emotionen und soziale Interaktionen anders als neurotypische Menschen, was sie häufig vor Herausforderungen in der Gesellschaft stellt. Mit dem Namen „Neuro-Spectrum“ wollen wir möglichst inklusiv die Breite atypischer neurologischer Entwicklungen und Gegebenheiten von Menschen verdeutlichen. In dieses Spektrum gehören beispielsweise Autismus, ADHS, Dyslexie, Dyspraxie, Dyskalkulie, Hochbegabung, aber auch Tourette und Tic-Störungen.
Warum braucht es aus Ihrer Sicht an der Universität Erfurt eine solche Hochschulgruppe?
Obwohl neurodivergente Menschen einen Anteil von circa zehn bis fünfzehn Prozent der Gesamtbevölkerung ausmachen, sind sie gesellschaftlich unsichtbar, wenig vernetzt und müssen deshalb mit den Herausforderungen, die ihre eigene Andersartigkeit mitbringt, allein versuchen umzugehen. Dabei sind neurodivergente Menschen insbesondere in der Ausbildungs- und Arbeitswelt vor größte Schwierigkeiten gestellt, da sie sich hier den gesellschaftlichen Gegebenheiten am stärksten anpassen müssen. Insbesondere in Thüringen gibt es außerdem sehr wenige Räume, in denen sich neurodivergente Erwachsene begegnen und austauschen können. Die Hochschulgruppe kann einen Beitrag zur Vernetzung und Sichtbarkeit neurodivergenter Menschen im Hochschulkontext leisten.
An wen richtet sich die Gruppe – wer kann mitmachen?
Vorwiegend richten wir uns an neurodivergente Personen, die eine Austauschmöglichkeit mit anderen Betroffenen suchen oder selbst in der Awareness- und Projektarbeit tätig werden möchten. Unsere Hochschulgruppe kann auch eine erste Anlaufstelle für Personen sein, die sich in den Symptomatiken verschiedener Neurodivergenzen wiedererkennen und Austausch mit diagnostizierten Personen suchen, bevor sie sich selbst an die – meist überlasteten – Diagnosestellen wenden. Außerdem möchten wir Personen in die Gruppe einladen, die selbst nicht neurodivergent sind, aber ihr neurodivergentes soziales Umfeld besser verstehen möchten, sowie Studierende und Lehrende, insbesondere der Förderpädagogik, Erziehungswissenschaften und Lehramt, die sich weiterbilden und forschen möchten.
Was genau tut die Gruppe, worin sehen Sie ihre Aufgabe?
Die regelmäßigen Gruppentreffen sind für alle Personen mit Interesse geöffnet und stellen eine Austauschmöglichkeit zu verschiedensten Themen im Bereich der Neurodivergenz dar, die sich auf das Studium, die Gesellschaft oder den Alltag beziehen können. Themenwünsche können vorher mit uns kommuniziert werden und werden dann in das Treffen eingebunden. Außerdem möchten wir Awareness-Angebote schaffen und die Sensibilität auf dem Campus gegenüber Neurodivergenz unter Studierenden, Lehrenden und Beschäftigen erhöhen. Wir möchten auch gern noch mehr mit Lehrenden zusammenarbeiten, die einen ihrer Forschungsschwerpunkte auf Neurodivergenz legen. Beispielsweise arbeiten wir gegenwärtig bei einem Seminar zum Thema „Kommunikation im Kontext von Neurodiversität“ mit und versuchen, das Seminar über die Erfahrungs- und Betroffenenperspektive zu bereichern. Zudem arbeiten wir gern mit Organisationen zusammen, die sich zum Thema Neurodivergenz weiterbilden möchten. Gegenwärtig beraten wir die mit der Universität gut vernetzte „Gedenk- und Bildungsstätte Andreasstraße“ dabei, ihr Museum auf die Bedürfnisse neurodivergenter Menschen auszurichten und eine „Stille Stunde“ zu etablieren.
Gibt es regelmäßige Treffen? Wenn ja: wann und wo?
In diesem Semester finden die Treffen zunächst monatlich statt, können aber bei Bedarf auch häufiger stattfinden. Wir treffen uns alle vier Wochen montags zwischen 18 und 20 Uhr im Gebäude C18, Raum 03.04. Die nächsten Termine sind also am 01.12.25 // 05.01.26 // 02.02.26 // 02.03.26 und am 30.03.26.
Das „Neuro-Spektrum“ ist ja ziemlich breit. Können Sie dennoch Beispiele dafür nennen, welche Hürden Menschen in diesem Spektrum im Studium oder bei der Arbeit an einer Hochschule überwinden müssen?
Durch eben jene Breite des neurodivergenten Spektrums sind die Hürden in Studium und Arbeit an einer Hochschule höchst individuell. Eine Person im Autismus-Spektrum hat beispielsweise größere Hürden in der sozialen Kommunikation gegenüber Mitstudierenden und Mitarbeitenden, während eine Person mit ADHS eher Probleme in der Organisation und Strukturierung des Arbeitsalltages hat. Wichtig ist es hier einfach, die individuellen Probleme der Personen nicht zu marginalisieren, indem man sie negativ mit Faulheit oder Einfältigkeit konnotiert, sondern stattdessen mit den Betroffenen Lösungsstrategien zu erarbeiten. Denn – und das ist uns wichtig zu betonen – die rein fachlichen Leistungen von neurodivergenten Menschen unterscheiden sich in ihrer Qualität nicht von denen neurotypischen Menschen.
Gibt es denn eigentlich auch Aspekte, die Hochschulen für neurodivergente Menschen zu einem besonders geeigneten Ort zum Studieren und Arbeiten machen?
Nun, grundsätzlich lässt sich sicherlich sagen, dass die Inklusion neurodivergenter Menschen in das Ausbildungs- und Berufsleben Arbeitsprozesse und Ergebnisse optimieren kann, weil diese Menschen ja auch andere Perspektiven und Ideen beisteuern. Die hohen Arbeitslosenzahlen bzw. die Unterbeschäftigung von neurodivergenten Menschen, insbesondere im Autismus-Spektrum, sind deshalb kritisch zu betrachten. Mit Blick auf Hochschulen haben wir die Erfahrung gemacht, dass die Möglichkeit der vergleichsweise freien Zeiteinteilung im Studium bzw. als Mitarbeiter*in für neurodivergente Menschen förderlich sein kann. Andere wiederum belasten fehlende feste Strukturen. Neurodivergente Personen können im Wissenschaftsbetrieb oft ihre speziellen Interessen in die Forschung einbringen und erfolgreich publizieren. Abgesehen davon sind Universitäten ja Orte des Lernens, des Diskurses und im besten Fall auch solche, an denen Offenheit, Toleranz und Akzeptanz gelebt werden. Klar, davon profitieren natürlich auch neurodivergente Personen.
Wie erleben Sie denn selbst als Betroffene den Umgang mit Neurodivergenz auf dem Campus der Universität Erfurt? Gibt es eine Sensibilität für das Thema? Gibt es Angebote bzw. Unterstützung für neurodivergente Menschen – wenn ja: in welcher Form?
Wie bereits erwähnt, trägt die Toleranz an der Universität dazu bei, dass Neurodivergenz eher akzeptiert wird als vielleicht in anderen gesellschaftlichen Institutionen und Berufsfeldern. An der Universität gibt es zudem die Möglichkeit sich, an das Dezernat 1: Studium und Lehre zu wenden und dort Unterstützung beispielsweise bei der Studienstrukturierung zu bekommen oder sogenannte Nachteilsausgleiche in Anspruch zu nehmen. Trotzdem ist Neurodivergenz bei einem erheblichen Teil der Menschen an der Universität noch unbekannt oder zumindest von Stereotypen geprägt. Deshalb ist die Aufklärung bzw. Sensibilisierung für dieses Thema aus unserer Sicht so wichtig.
Zum Start des Wintersemesters 2025/26 gab es ja erstmals in der Studieneingangsbefragung auch einen Part zu Neurodivergenz. Gute zehn Prozent derer, die den Fragebogen beantwortet haben, sehen sich nach eigenen Angaben selbst im Spektrum von Neurodivergenz. Das mag eine Minderheit sein, aber doch eine recht große. Mal ganz davon abgesehen, dass Neurodivergenz ja nicht nur die Studierenden betrifft, sondern auch die Beschäftigten und ja, Menschen aller Altersgruppen. Es scheint aber bislang kaum wirklich darüber zu sprechen – aus Angst vor Stigmatisierung?
Die Ergebnisse der Befragung haben uns gezeigt, dass der Anteil neurodivergenter Personen an der Uni Erfurt etwa auch dem in der Gesamtgesellschaft entspricht. Die Unsicherheit und das Schweigen zu diesem Thema hängen aus unserer Sicht zum einen mit der Furcht vor Stigmatisierung zusammen. So verbinden beispielsweise viele Menschen ADHS ausschließlich mit Unkonzentriertheit und Unruhe oder halten Menschen mit Autismus für merkwürdig und sozial desinteressierte Einzelgänger. Zugleich ist es für viele Betroffene schwierig, selbst darüber zu sprechen – nicht zuletzt vor dem Hintergrund, dass sie die Bewältigung ihres Alltags schon genug Energie kostet und Kapazitäten bindet.
Auf der anderen Seite ist in den Sozialen Medien ja gerade eine Art „Hype“ um Neurodivergenz zu erleben – als sei das eine Art Modeerscheinung. Ist das aus Ihrer Sicht gut, weil es womöglich zu mehr Akzeptanz führt? Oder ist das eher schlecht, weil es die Menschen mit ND-Diagnose nicht hinreichend ernst nimmt?
Es ist wohl beides. Zum einen bekommen immer mehr Menschen Antworten auf die Frage, warum sie sich immer schon anders gefühlt haben und können nach einer entsprechenden Diagnostik therapeutische Unterstützung bekommen und sich Lösungsstrategien erarbeiten, um besser mit sich und ihrem Leben klarzukommen. Andererseits besteht bei so viel Öffentlichkeit immer auch die Gefahr, dass sich „Trittbrettfahrer“ das Label ADHS oder Autismus anhängen, um beispielsweise ein ansonsten nicht akzeptiertes Verhalten zu rechtfertigen. So etwas kann der gesellschaftlichen Akzeptanz von Neurodivergenz erheblich schaden.
Menschen, die bislang mit Neurodiversität noch nicht so intensiv in Berührung gekommen sind, haben im Umgang mit betroffenen Personen vielleicht die Sorge, nicht den richtigen Ton zu treffen oder Fehler zu machen. Haben Sie da Tipps, mit denen sich mögliche „Berührungsängste“ abbauen lassen?
Zunächst einmal ist die Sorge, einen Fehler zu machen, doch ein Indiz dafür, dass man nicht ignorant, sondern in gewisser Weise schon sensibilisiert ist. Zugleich ist die Sorge aus unserer Sicht unbegründet. Die meisten neurodivergenten Personen schätzen es, wenn man erst einmal auf sie zugeht wie auf neurotypischen Menschen auch. Dennoch haben betroffene Menschen häufig besondere Bedürfnisse – beispielsweise in der Kommunikation. Das kann man aber im besten Fall auch einfach direkt erfragen. Außerdem kann es hilfreich sein, neurodivergenten Personen das Gefühl zu vermitteln, dass man sie sieht und anerkennt, sie sich also nicht verstellen müssen, um akzeptiert zu sein.
Im Juni kommenden Jahres widmet sich die Universität Erfurt mit einem „Dies Academicus“ erstmals ein ganzer Tag dem Thema Neurodiversität…
Ja, das finden wir sehr gut.
Wird sich die Hochschulgruppe „Neuro-Spectrum“ in die Gestaltung des „Dies Academicus“ einbringen und wenn ja: wie?
Wir werden uns an diesem Tag definitiv beteiligen. Aktuell wird ja noch am Programm gefeilt, aber wir sind auf jeden Fall dabei – sei es in Form eines Informationsstandes, an dem man unsere Arbeit kennenlernen kann, oder auch eines Diskussionsbeitrags oder Workshops, bei dem andere von unserem Wissen und unseren Erfahrungen mit Neurodivergenz im Studienalltag profitieren können. Das wird sicher eine interessante Veranstaltung…
Welche Hoffnungen sind für Sie mit der Veranstaltung verbunden?
Da der „Dies Academicus“ nicht nur einzelne Personen ansprechen soll, sondern die gesamte Universität einlädt, hoffen wir, dass sich auch Personen für den Tag interessieren, die bisher noch keine Berührungspunkte mit der Thematik gehabt haben. Wenn bereits eine neue Person über die Lebensrealität neurodivergenter Menschen nach dem Tag besser informiert ist, hat sich die Organisation aus unserer Sicht bereits gelohnt. Es wäre auch toll, wenn möglichst viele Lehrende und Personen aus der Verwaltung kommen und sich auf das Thema einlassen würden. Die eine oder andere Erkenntnis kann den Campusalltag von betroffenen Studierenden sicherlich weiter verbessern. Und natürlich erhoffen wir uns von der Veranstaltung auch neue Kontakte bzw. Vernetzungen innerhalb wie außerhalb der Uni…
Wenn durch diesen Beitrag jemand auf Sie aufmerksam geworden ist: Wie kann man in Kontakt mit Ihnen kommen? Gibt’s eine Website oder Ähnliches?
Wir arbeiten aktuell an einer Website, die ist aber noch nicht fertig. Deshalb schreibt man uns am besten eine Mail über hsg.neuro@uni-erfurt.de. Wer mag, kann auch unserer WhatsApp-Gruppe beitreten. Das funktioniert ganz einfach über den folgenden QR-Code: