Globetrotterin mit sozialer Vision: Sisi Sung lehrt und forscht an der Universität Erfurt

Vorgestellt
Sisi Sung

Eine verkehrsberuhigte Innenstadt, Menschen, die in der Sonne sitzen und lesen, keine hetzenden Massen. Erfurt ist ein Kontrastprogramm für Sisi Sung. Die chinesische Wirtschaftswissenschaftlerin ist in Hongkong aufgewachsen und hat zehn Jahre lang in Großstädten wie Peking und Seattle gelebt. In die Thüringische Landeshauptstadt kam sie zum ersten Mal auf einer Geschäftsreise. Und gleich als sie aus dem Bahnhof trat, wusste Sie: „Hier möchte ich eine Weile bleiben.“ Heute lebt und arbeitet sie in Erfurt: Am Max-Weber-Kolleg der Universität erforscht sie im Rahmen ihrer Dissertation die Karrierehindernisse für Frauen in großen Unternehmen. Außerdem lehrt sie an der Willy Brandt School of Public Policy und unterstützt mit Gremienarbeit die Internationalisierung der Hochschule. „WortMelder“ hat mit ihr über ihre Forschung und das Leben in Erfurt gesprochen.

Frau Sung, Erfurt ist so ganz anders als die Städte, in denen Sie bisher gelebt haben...
Auf jeden Fall. Nachdem ich in mehr als 30 Länder gereist war, spürte ich den außergewöhnlichen Charme Erfurts sofort: ‚alt‘ im Tempo, modern in der Ausstattung. Die friedliche und freundliche Atmosphäre, die von den Straßen ausging, brachte mich zu einer längst vergessenen Gelassenheit. Ich wusste gleich, dass ich hier leben und an meinem Promotionsprojekt arbeiten wollte. Also schaute mich gar nicht weiter um, sondern begann erst einmal, mich über Erfurt und die Universität zu informieren. Ich war fasziniert von der Geschichte der Universität Erfurt als älteste Universität Deutschlands und fragte mich, wie das Studienleben hier wohl sein würde.

Und dann stießen Sie sicher schnell auf das Max-Weber-Kolleg?
Das Max-Weber-Kolleg stellte sich für mich als Wirtschaftswissenschaftlerin gleich als eine perfekte Umgebung für mein Promotionsprojekt dar. Seine internationale und interdisziplinäre Struktur ist sehr innovativ. Es bietet eine einzigartige Plattform, um globale Erfahrungen und intellektuelle Inspirationen durch den Austausch mit einer Vielzahl von renommierten Sozialwissenschaftler*innen und herausragenden jungen Forscher*innen zu sammeln. Das hat einfach perfekt zu meinem Vorhaben, Vielfalt und Gleichberechtigung durch interkulturelle und interdisziplinäre Zusammenarbeit zu fördern, gepasst.

Sie forschen also zu Vielfalt und Gleichberechtigung. Was untersuchen Sie genau?
In meiner interdisziplinären Studie untersuche ich weibliche Führung und institutionelles Management in den größten Unternehmen der Welt. Meine Forschung zielt im Wesentlichen darauf ab, die Treiber für Vielfalt und Gleichberechtigung und einen Weg hin zu einer stärkeren wirtschaftlichen Entwicklung zu finden. Wenn Männer und Frauen paritätisch zusammenarbeiten, kann das viele Vorteile haben, vor allem in wirtschaftlicher Hinsicht: Die Wirtschaft wächst und das Einkommen jedes Einzelnen in der Gesellschaft kann sich verbessern. Auf Unternehmensebene können mehr Frauen im Vorstand oder im Führungsteam einen besseren Gewinn erwirtschaften, sie tragen so letztlich zum wirtschaftlichen Wachstum bei. Vielfalt und Gleichberechtigung als selbstverständlich in der Gesellschaft zu etablieren, ist eine echte Herausforderung. Deshalb sind auch meine Untersuchungen dazu eine anspruchsvolle Aufgabe.

Wie sind Sie auf dieses Thema gekommen?
Ich komme aus einer typischen chinesischen Familie, in der die Bedeutung von sozialer Verantwortung häufig thematisiert wird. Meine Eltern schickten mich auf die älteste Mädchenschule in Hongkong. Diese wurde einst gegründet, um Mädchen die gleichen Bildungschancen wie Jungen zu bieten, denn vorher gab es in Hongkong keine Bildungsangebote für Mädchen. Das war eine sehr prägende Erfahrung für mich und vielleicht die erste Motivation, mich für Vielfalt und Gleichberechtigung in der globalen Gemeinschaft einzusetzen. Als Wirtschaftswissenschaftlerin habe ich dann an vielen internationalen Konferenzen teilgenommen, und bei den meisten habe ich festgestellt, dass die Gastredner überwiegend Männer waren. Das Fehlen von Rednerinnen machte bei mir das Thema Diversität schon sehr präsent. Und nachdem ich einige der weltweit größten chinesischen Unternehmen wie Alibaba und Tencent besucht hatte, stellte ich fest, dass männliche Führungskräfte auch hier oft die Meetings dominieren. Ich fragte mich immer häufiger: Wo sind die Frauen? Einen Schlüsselmoment hatte ich schließlich, als ich einen Gastvortrag von Christine Lagarde hörte. Sie sagte: „Wenn ‚Lehman Brothers‘ ‚Lehman Brothers und Sisters‘ wäre, stünden die Dinge anders.“ Dieser Satz versetzte mich sofort zurück ins Jahr 2008, als ich in einem Klassenzimmer meiner Alma Mater – der Tsinghua Universität, eine der renommiertesten natur- und ingenieurwissenschaftlichen Universitäten Chinas, – saß und selbst nur von männlichen Studenten umgeben war. Von da an stand der Entschluss fest, dass ich mehr über Vielfalt und Gleichberechtigung herausfinden wollte.

Welchen gesellschaftlichen Beitrag soll Ihre Studie leisten?
Eine Hauptmotivation, die auch meinen Ehrgeiz steigert, ist die Verbindung von akademischer Forschung mit der Praxis. Ich hoffe, dass meine akademische Arbeit bei der Lösung von Problemen im realen Leben angewendet werden kann. Deshalb bin ich begierig darauf, meine Erfahrungen zu teilen und mein Fachwissen für die Entwicklung unserer Gemeinschaft bereitzustellen. Nach Abschluss meines Promotionsprojekts möchte ich also die Erkenntnisse der Wirtschaft und der Politik zur Verfügung stellen und Führungskräften helfen, Ungleichheit zu überwinden und Vielfalt zu erreichen. Ich möchte die Zusammenarbeit von Wissenschaftler*innen, Organisationsleiter*innen und politischen Entscheidungsträger*innen vorantreiben, um einen Weg zu Vielfalt und Gleichberechtigung in der globalen Gemeinschaft zu kultivieren. Ich glaube, das würde die Politik weniger voreingenommen, Entscheidungen effektiver und das Leben der Menschen insgesamt besser machen.

Nun hatten Sie ja große Erwartungen an Ihre Studienzeit in Erfurt und am MWK. Haben sich diese erfüllt?
Ich bin jetzt seit mehr als zwei Jahren hier. In Erfurt zu leben und zu studieren, ist fantastisch. Nach all den intellektuellen Diskussionen mit Kolleg*innen, den vielen Vorlesungen an der Brandt School und der Vertretung aller Doktorand*innen an der Universität Erfurt sowie am Max-Weber-Kolleg habe ich definitiv Erfahrungen gesammelt, die ich nirgendwo anders hätte machen können. Das Max-Weber-Kolleg hat reichlich formelle und informelle Austauschmöglichkeiten geboten, mit einer schönen Balance von akademischen und sozialen Veranstaltungen. Das Beste sind immer die persönlichen Verbindungen und Gespräche mit prominenten Wissenschaftler*innen und meinen Forscherkolleg*innen, die alle ganz unterschiedliche Hintergründe haben.

... so wie Ihre Studierenden an der Brandt School auch. Sie erwähnten gerade schon die Vorlesungen, die Sie dort halten. Wie bereichert die Lehrtätigkeit Ihre Forschungsarbeit?
Ich merke gerade, dass ich seit 2010 durchweg unterrichtet habe. Ich habe an der Tsinghua Universität in China, an der University of Washington in den USA und jetzt an der Brandt School unterrichtet. Eine unschätzbare Erfahrung. Ich habe das Glück, so viele intelligente Studierende kennengelernt und von den Interaktionen mit ihnen profitiert zu haben. An der Brandt School unterrichte ich zwei Kurse, in denen es um kulturübergreifende Zusammenarbeit und strategisches Management von öffentlicher Führung geht. Ich bin immer wieder inspiriert von den einzigartigen Perspektiven meiner Studierenden. Sie kommen aus den unterschiedlichsten Ländern und Bereichen und teilen die gleiche Leidenschaft, innovative Veränderungen zum Wohl der Weltgemeinschaft voranzutreiben. Es ist inspirierend, mit den jungen Führungskräften zu interagieren. Diskussionen mit ihnen bereichern nicht nur das Verständnis für meine eigene Forschungsarbeit, sondern liefern auch nützliche Vorschläge zur Verbesserung meiner Forschung. 

Seit einem Jahr überschattet uns jetzt die Pandemie schon. Wie kommen Sie fernab von Ihrer Heimat damit zurecht?
Die Universität und das Max-Weber-Kolleg unterstützen mich immer nach Kräften bei meinem Studium und dem Leben in Erfurt. Besonders während der Pandemie haben die Direktoren und Mitarbeiter*innen ihre Hilfsbereitschaft zum Ausdruck gebracht. Ich organisiere auch regelmäßig einen Stadtspaziergang, um die herausfordernden Kontaktbeschränkungen zu bewältigen. Der Kontakt zu meinen Kolleg*innen hilft mir gerade jetzt sehr, denn ich weiß, dass es immer jemanden gibt, an den ich mich wenden kann, auch wenn ich 9.000 km von zu Hause entfernt bin. Außerdem bin ich überzeugt davon, dass sportliche Aktivitäten und eine gute Gesundheit zum sozialen Wohlbefinden beitragen. Jetzt, während der Pandemie, verbringe ich deshalb jeden Tag ein oder zwei Stunden mit Outdoor-Training. Das hilft mir, meine Arbeitsroutine beizubehalten, und Erfurt ist so ein wunderschöner Ort, um sich draußen zu bewegen.