"Heute weiß eigentlich jeder in Deutschland, dass Gotha eines der Zentren für Frühneuzeitforschung ist"

Ausblicke , Einblicke
Das Forschungszentrum Gotha der Universität Erfurt mit Sitz im Landschaftshaus am Schlossberg.

2024 wird für das Forschungszentrum Gotha ein ganz besonderes Jahr. Die wissenschaftliche Einrichtung der Universität Erfurt feiert ihr 20-jähriges Bestehen und zugleich „20 Jahre Herzog-Ernst-Stipendienprogramm“. Die Vorbereitungen sind im vollen Gange. Wir sprachen mit dem Direktor, Prof. Dr. Martin Mulsow, über die Pläne, aber auch über ganz persönliche Erinnerungen und Begegnungen …

Professor Mulsow, erinnern Sie sich noch an Ihren ersten Tag am Forschungszentrum Gotha?
Ja, das war der Tag, als mir gezeigt wurde, wo ich sitzen sollte. Es gab damals – im Sommer 2008 – noch kein Forschungszentrum als eigenes Gebäude; ich bekam einen Raum im Turmzimmer oberhalb des Treppenhauses in Schloss Friedenstein zugewiesen, dort wo man heute zur Forschungsbibliothek hinaufgeht. Man konnte vom Zimmer aus ganz von oben in den Schlosshof sehen. Außer einem Schreibtisch war dort nichts, aber es gab ein Vorzimmer, in dem die Sekretärin oder der Sekretär sitzen sollte, wenn einer eingestellt war. Ich war voller Tatendrang. Damals stellte ich mir noch vor, ich würde die ersten Monate hauptsächlich damit verbringen, in den Magazinen der Bibliothek von Regal zu Regal zu gehen, um mir die Bestände anzueignen – zumindest in einer ersten Weise. Bücher herausnehmen, Zusammenhänge kennenlernen, Stärken und Schwächen der Bestände abschätzen.

Prof. Dr. Martin Mulsow

Was war damals der Plan – was sollte am Forschungszentrum geschehen?
Man hat mir immer viel Freiheit darin gelassen, was ich mit dem Forschungszentrum machen sollte. Die Aufgabe war, ganz pauschal gesagt, Forschung an die Bestände zu bringen. Das betraf zum einen die Stipendiat*innen: Seit 2004 finanzierte die Thyssen-Stiftung das Herzog-Ernst-Stipendienprogramm, um die großartige Bibliothek, die während der DDR-Zeit, aber auch danach noch, nur von wenigen Benutzer*innen frequentiert wurde, vor allem jüngeren Forscherinnen und Forschern zugänglich zu machen, ähnlich wie das seit den 1970er-Jahren für die vergleichbare Herzog-August-Bibliothek in Wolfenbüttel geschah. Die Forscher*innen sollten für einige Monate dort leben und arbeiten und dabei Materialien entdecken, die für ihre Dissertationen oder Habilitationen nützlich waren. Das diente umgekehrt der Bibliothek zur Aufarbeitung ihrer Schätze. Das Thyssen-Programm hat die Universität Erfurt motiviert, mitzuziehen und das Forschungszentrum zu gründen, das das Stipendienprogramm organisieren sollte, zugleich aber auch Tagungen veranstalten, um den Bibliotheksort mit intellektuellem Leben zu erfüllen. Mein Vorgänger im Amt, Peer Schmidt, hat das zusammen mit Gunther Mai vier Jahre lang auf wunderbare Weise neben seiner Tätigkeit als Geschichtsprofessor in Erfurt gemacht. Als ich 2008 berufen wurde, wollte man dann einen Neustart wagen und das Forschungszentrum auch als eigenes Institut realisieren, mit Gebäude und Nachwuchskolleg. Ich konnte nach einigen provisorischen Monaten im Turm in das Pagenhaus einziehen, einen Seitenanbau am Schloss, bekam eine Mitarbeiterin und konnte eine Juniorprofessoren-Stelle ausschreiben. Besonders dankbar bin ich auch dafür, dass ich einen Anteil an der vom Land finanzierten Graduiertenschule „Religion in Modernisierungsprozessen“ abbekommen habe, die ich mit fünf jungen Leuten besetzen konnte, zu dem Thema, das ich „Untergrundforschung“ nenne: der Aufarbeitung von einstmals verbotenen und verfolgten Denkern. So konnte ich schon bald mit einer Gruppe junger Wissenschaftler*innen starten, und wir haben uns vorgenommen, anhand der Gothaer Bestände einer neuen Programmatik nachzugehen, unserem Zentrum ein ganz eigenes Profil zu geben. In meiner Eröffnungsrede habe ich damals gesagt: „Wenn ich also heute eine Programmatik des Forschungszentrums für die nächsten Jahre, ja für das kommende Jahrzehnt, ausrufen sollte, dann wäre dies zunächst ganz einfach mit einem Wort zu fassen: Wissenschaftsgeschichte der Geisteswissenschaften. Dafür ist Gotha der Ort.“

Und ist der Plan aufgegangen – wenn Sie heute, 20 Jahre später, zurückblicken?
Ich denke schon. Wenn ich darauf zurückblicke, was wir in dieser Richtung geschafft haben, ist das eine ganze Menge. In Sachen Wissenschaftsgeschichte der Geisteswissenschaften haben wir uns etwa um die Geschichte der Orientalistik, der Numismatik, der Alchemie oder der Philosophie gekümmert, getreu unserem „wissensgeschichtlichen“ Programm, besonders die Zusammenhänge unterschiedlicher Wissensformen, ihre Praktiken und Ausdrucksweisen zu untersuchen, auch die Kontexte und die Netzwerke. Wir haben das auf Tagungen betrieben, bei Sommerseminaren (zusammen mit den anderen Institutionen auf dem Friedenstein), haben Arbeitsgruppen gegründet und Abschlussarbeiten betreut. In meiner Eröffnungsrede habe ich auch eine „vorsichtige Globalisierung“ gefordert, um den eurozentrischen Blick zu überwinden. Auch das ist inzwischen erreicht, eine globale Ideengeschichte ist entworfen, wir haben kürzlich Henkel-Stipendien eingeworben, mit denen Tandems von Forscher*innen (etwa eine Sinologin und ein Frankreich-Experte) gemeinsam an Themen arbeiten, die die Kulturgrenzen überschreiten. Eigentlich sind wir unbeirrt einen recht klaren Weg vorangeschritten und haben dabei Stück für Stück Reputation aufgebaut.

Wichtig war mir von Anfang an, Vorbilder einzuladen, also Wissenschaftler*innen, die maßstabsetzend für unsere Art von Wissenschaft stehen. Klaus Garber, Wilhelm Schmidt-Biggemann und Wilhelm Kühlmann waren die ersten, dann folgten Carlo Ginzburg, Robert Darnton, Jan Assmann, Peter Burke, Anthony Grafton, Lorraine Daston, Jonathan Israel und zahllose andere. Auf diese Weise ist die Kunde von Gotha und seinen Beständen in die Welt getragen worden, und heute weiß eigentlich jeder in Deutschland und wissen viele weltweit, dass Gotha eines der Zentren für Frühneuzeitforschung ist.

Was würden Sie sagen, ist für Sie persönlich die größte „Errungenschaft“ des Forschungszentrums?
Vielleicht ist diese weltweite Reputation auf lange Sicht das Wichtigste. Denn es kommt ja darauf an, immer wieder interessante Köpfe nach Gotha zu locken, die sich dann für die Entdeckungen begeistern, die hier unter den Handschriften, den alten Drucken oder den Karten zu machen sind.  Wichtig ist mir auch der wissenschaftliche Nachwuchs, den wir ausbilden und dem wir helfen, seine eigenständige Stimme innerhalb der Forschung zu finden. Ich messe unsere Leistung nicht zuletzt an den Büchern, die aus den vielen Tagungen hervorgegangen sind, die wir veranstaltet haben. Das sind etwa die großen Sammelbände zur Untergrundforschung („Kriminelle-Freidenker-Alchemisten“), zur „Subversiven Literatur“, zur Pornografie im 18. Jahrhundert, zur Geheimkommunikation, zu den physikalischen Experimenten von Ludwig Christian Lichtenberg, zum Äthiopisten Hiob Ludolf, zum Thema Haare, jüngst auch zu den „Freimauren und Mysterien in Gotha“; in diesem Jahr folgt ein dicker Band über das intellektuelle Gotha um 1800, einer über den Dreißigjährigen Krieg und ein weiterer zu Herzog August.

Das Forschungszentrum Gotha ist ja sehr international unterwegs. Da gab es in den vergangenen zwei Jahrzehnten bestimmt auch viele wunderbare Begegnungen mit Wissenschaftler*innen aus aller Welt. An welche erinnern Sie sich dabei besonders gern?
Ach, da gibt es viele. Ich erinnere mich gern an die leuchtenden Augen von Kollegen, wenn sie realisiert haben, dass in Gotha viel mehr an Material zu finden ist, als sie erwartet hatten. Vera Keller aus Princeton etwa berichtete mir staunend von dem Alchemie-Nachlass, auf den sie im Staatsarchiv gestoßen war. Ich hatte sie darauf hingewiesen, aber selber noch gar nicht mit dem Bestand gearbeitet. Erst durch Vera wurde mir bewusst, dass ganze Bündel von Forschungsfragen mit diesem Bestand zu traktieren waren. So organisierte ich dann mit dem Alchemie-Historiker Joachim Telle eine Sommerschule, und das Resultat war eine Arbeitsgruppe, die sich bis heute trifft, um die Rezepte von alchemischen Prozessen, die sich dort finden, im Labor nachzukochen. Ich erinnere mich auch noch gut daran, als ich mit einem staunenden Jan Assmann, den wir als Gastforscher einige Zeit beherbergt haben, in das Dachgeschoss des Ostturms von Schloss Friedenstein klettern durfte, wo wir zwischen aufgetürmten Regalen voller alter lateinischer Folianten das Regal entdeckten, auf dem die Freimaurer-Bestände aufbewahrt waren. Assmann bekam leuchtende Augen und hat zwei Wochen lang jeden Tag von morgens bis abends im Lesesaal gesessen, bis er alle diese Bände durchgeschaut hatte. Spannend war auch das sogenannte Co-Lab im vergangenen Jahr, bei dem sich eine Gruppe von sozial engagierten jungen Personen aus Afrika, Lateinamerika und Südasien und mit gruppendynamischen Methoden besser kennenlernte und gegenseitig über die jeweiligen Projekte informierte. Wir waren nur die Gastgeber, aber wir wurden von der Gruppe herausgefordert zu zeigen, womit wir denn die Menschheit weiterbringen würden. Das hat uns einen Schub gegeben, aus dem Elfenbeinturm herauszukommen und über die Relevanz unseres Arbeitens nachzudenken.

Würden Sie sagen, dass das Forschungszentrum den Friedenstein, ja vielleicht sogar die Stadt Gotha, verändert hat? Und wenn ja: inwiefern?
Den Friedenstein bestimmt. In den ersten Jahren war das noch ziemlich mühsam, denn unausgesprochen sind wir von den anderen Institutionen immer auch als eine Art Konkurrenz empfunden worden – was wir gar nicht sein wollten. Erst nach und nach sind Kooperationen entstanden, gemeinsame Tagungen oder Ausstellungen, ein engerer Fluss der Informationen. Wenn es gut lief, war es immer so, wie ich es mir vorgestellt habe: Ein Bibliothekar entdeckt eine interessante Handschrift, wir vom Forschungszentrum bekommen das mit und schreiben Aufsätze, die den Fund in die Forschungslandschaft einbetten; am Ende resultiert womöglich eine Ausstellung daraus, bei der sich auch die Stiftung Schloss Friedenstein mit Objekten beteiligt, oder ein Expertenbesuch von außen schließt sich an, oder Stipendiaten arbeiten an der Sache weiter.

Die Stadt Gotha haben wir, denke ich, auch ein wenig verändert, zumindest in unserem kleinen Rahmen. Vielleicht weniger mit unseren Veranstaltungen (die werden – leider – nur sehr selten von Gothaer Bürgern besucht), aber einfach mit der Präsenz unserer Stipendiat*innen, jungen Menschen aus allen Ländern der Welt, in Gothas Straßen. Manchmal sind sie abends die einzigen, die noch in der Stadt unterwegs sind. Ein paar von ihnen haben vor einigen Jahren sogar spontane Auftritte in einem Pub gehabt, mit Gitarre und Gesang. Der Oberbürgermeister Gothas hat von Anfang an diese Präsenz begrüßt und befördert, denn auch er ist ja daran interessiert, dass in diese Stadt wieder mehr Leben kommt. Es könnte – und müsste – aber noch viel mehr sein, um wirklich einen nachhaltigen Effekt für die Stadt zu haben. Wir sprechen immer davon, dass eine „kritische Masse“ an Wissenschaftler*innen nötig ist, um die erwünschte wechselseitige Befruchtung zu erreichen; um sicherzustellen, dass man gern in Gotha lebt, weil auch andere mit ähnlichen Interessen dort wohnen und arbeiten, mit denen man sich unterhalten kann.

Der runde Geburtstag soll in diesem Jahr natürlich gefeiert werden: Was werden die Höhepunkte 2024 sein?
Wir planen gerade das Programm für das Sommersemester. Neben den „normalen“ Gastvorträgen und Tagungen ragen dabei zwei Jubiläumsveranstaltungen heraus: zum einen die 20-Jahrfeier des Stipendienprogramms, das lange Zeit von der Thyssen-Stiftung getragen wurde und seit einigen Jahren von der Abbe-Stiftung finanziert wird. Sie findet am 16. Mai statt, mit einem Festvortrag von Nils Güttler, der selbst einer der Stipendiaten war und heute als Professor in Wien wirkt. Und dann wird es am 20. Juni die Feier des 20-jährigen Bestehens des Forschungszentrums geben, mit vielen Grußadressen und einem Vortrag der Tübinger Historikerin Renate Duerr, die für das Profil der Globalen Ideengeschichte steht. Am Ende wird der Tag in unserem Sommerfest ausklingen, denn im prächtigen neuen Haus am Schlossberg, in dem wir seit Mai 2018 residieren, gibt es einen Innenhof, in dem wir grillen und feiern können.

Dass der Frühneuzeit-Kongress „WissensWelten“ in diesem Jahr in Gotha stattfindet, ist sicherlich auch eine besondere Auszeichnung und als Anerkennung der wissenschaftlichen Arbeit hier zu sehen. Ist es ein Zufall, dass dieses Ereignis ausgerechnet mit dem Jubiläumsjahr zusammenfällt?
Zum Teil ist es Zufall, doch wir haben den Zufall gern aufgenommen und in einen Teil unseres Jubiläumsprogramms verwandelt. Der Wunsch, das Treffen aller Frühneuzeithistoriker in Gotha abzuhalten, wurde von außen an uns herangetragen. Ich gebe zu, dass ich eine Weile gezögert habe, dem Anliegen zu entsprechen, weil ich nicht sicher war, ob wir einen solchen Kongress, an dem bis zu 200 oder 300 Frühneuzeit-Forscher und -Forscherinnen nach Gotha kommen, mit unserem kleinen Team bewältigen können. Doch dann haben wir uns einen Ruck gegeben, weil eine solche Chance, für Gotha zu werben, nicht so schnell wiederkommt. Natürlich ist das auch eine Anerkennung unserer Arbeit und unseres Rufes. Und außerdem Folge der Neugierde, die Gothaer Bestände und Sammlungen zu sehen, von denen so viel geredet wird. Also haben wir versucht, ein Thema zu finden, das sowohl dem Ort (der Wissenskultur Fürstenhof) als auch unserem Profil (Wissensgeschichte, globalisiert gedacht) Rechnung trägt. Daraus ist der Slogan „WissensWelten“ entstanden, und so wird es jetzt im September Panels und Vorträge darüber geben, in welche Richtung sich die Frühneuzeitforschung weiterentwickelt, wie sie die Kolonialismusdebatte, die sich ja vornehmlich auf das 19. und 20. Jahrhundert bezieht, auf differenzierte Weise für die frühere Zeit adaptieren kann, an welchen Orten (selbst im Gefängnis!) Wissen produziert wurde und welche Gruppen (etwa Diplomaten) daran beteiligt waren.

Wie wird es nach 2024 weitergehen im Forschungszentrum – welche Pläne gibt es und wohin soll sich die wissenschaftliche Einrichtung der Universität Erfurt entwickeln, wenn Sie sich da etwas wünschen dürften?
Wir haben eine ganze Reihe an Plänen in der Schublade. Zudem warten wir auf die Bewilligung einiger Großprojekte, die wir beantragt haben. Ich muss aber betonen, dass der Kampf darum, die kritische Masse an klugen Köpfen in Gotha zusammenbringen, immer wieder von neuem nötig ist. Zwar sind es keine 25 Kilometer nach Erfurt, aber der Abstand ist doch so groß, dass wir uns immer neu bemühen müssen, Kolleginnen und Kollegen zum Besuch unserer Veranstaltungen zu motivieren. Immer neu müssen wir Projekte und Stipendien einwerben, um die Zahl der Wissenschaftler*innen auf einem Niveau zu halten, auf dem lebendiger Austausch funktioniert. Mein Ziel wäre es, diese kritische Masse auf Dauer zu garantieren, in einem ausreichend und nachhaltig gesicherten Ausmaß. Dazu muss auch das Team selbst genügend groß sein, um alle Anforderungen zu meistern. Auch hier sind wir oft an der Untergrenze. Was die Inhalte angeht, so sind wir, denke ich, mit den Themen Globale Wissensgeschichte und Wissenschaftsgeschichte der Geisteswissenschaften auf einem guten Weg, auch noch für die nächsten Jahre, denn diese Bereiche haben enorm viel an Potenzial, sie sind zeitgemäß. Wenn ich mir ein brummendes Gotha in zehn Jahren vorstellen darf – längst nach meiner Emeritierung –, dann wäre das eine Stadt, die in einem Halbstundentakt mit der Bahn erreichbar ist, mit einer Bibliothek, die einen neuen Magazinbau ganz in der Nähe des Friedensteins besitzt, und einem Forschungszentrum mit einigen fest angestellten Wissenschaftler*innen, die die Grundlage für weitergehende Projektanträge bilden. Ein Forschungszentrum, das noch mehr als heute ein beliebter Begegnungsort für Wissenschaftler aus aller Welt ist.