Der Mensch in einer technisierten Welt: Eine christliche Positionierung

Forschung & Wissenschaft
Das Auge einer Frau mit einer digitalen Linse darüber
Patrick Becker

Es kann einem heute schon angst und bange werden: Wir erleben gerade eine Form von Wandel, von Weiterentwicklung, die alles, sogar uns Menschen selbst verändern wird, und die uns daher das Gefühl von Ohnmacht geben kann, zumindest muss sie uns ins Nachdenken bringen.

Wir staunen darüber, wie Computer ehemals aufwendige Prozeduren in Sekunden durchführen können. Innehalten müssen wir, wenn Künstliche Intelligenz anfängt, literarische Texte zu verfassen, Musik zu komponieren, kreativ zu werden, also in eine Domäne vorzudringen, die der Mensch bisher sich selbst vorbehalten sah. Wir staunen darüber, wie Maschinen Alltagsaufgaben übernehmen und Ärzt*innen bei Operationen assistieren. Innehalten müssen wir, wenn diese Maschinen selbstständig werden, wenn sie über Leben und – als Drohne im Krieg – über Tod entscheiden. Wir staunen darüber, wie Beinprothesen Menschen schneller laufen lassen als sie es mit natürlichen Beinen könnten. Innehalten müssen wir, wenn Substanzen oder Chips entwickelt werden, die das Gehirn leistungsfähiger machen und damit Persönlichkeiten verändern.

Im Sog des Fortschritts

Alle genannten Entwicklungen stehen eigentlich in der Logik dessen, was wir bisher als ‚Fortschritt‘ begrüßt haben, als Fortschritt, der das Leben angenehmer macht, der unsere Möglichkeiten und unseren Horizont ungemein ausweitet. Es ist toll, wenn wir in fremde Länder fliegen können, wenn wir mit dem Smartphone in Kontakt bleiben können, wenn uns die moderne Medizin ein deutlich längeres Leben ermöglicht.

Es ist geradezu ein Clou der Moderne, dass wir uns in den Sog des technischen Fortschritts begeben haben. Die moderne Gesellschaft – und zwar in Ost und West, es ist ein weltweites Phänomen ­– hat ihre Emanzipation auf seiner Basis erreicht:

Mittels des technischen Fortschritts sollte eine gerechtere Welt, in der jede und jeder sich verwirklichen kann, eine schönere neue Welt entstehen.

Die letzten Jahrhunderte waren voll von Utopien, und auch heute werden von und um die Tech-Konzerne weitere Utopien gesponnen. Der Milliardär und Tech-Visionär Elon Musk wird von vielen Menschen deshalb geliebt, weil er in einer Zeit voller Krisen eine Utopie anbietet, die Hoffnung darauf, dass wir Menschen die Welt immer weiter immer besser gestalten und so alle Probleme technisch lösen können.

Es gibt inzwischen ein ernsthaft und mit viel Geld betriebenes Projekt unter der Bezeichnung „Transhumanismus“, das die Weiterentwicklung und damit Perfektionierung des Menschen betreibt. Gearbeitet wird am Körper des Menschen, dieser soll besser funktionieren. Seine Perfektionierung wird dort als moralischer Auftrag gesehen. Ein besser funktionierender Mensch sei demnach eben ein besserer Mensch. In diesem Kontext steht auch die Entwicklung der Kryonik: Man kann sich für einen fünf- bis sechsstelligen Betrag am Ende des Lebens einfrieren lassen in der Erwartung, dann wieder aufgeweckt zu werden, wenn der Körper wiederbelebt werden kann. Ziel ist hier das unendliche Leben im Diesseits.

Apokalyptische Szenarien

Mit den Utopien kamen auch die Dystopien. Die Phänomene, die ich benannt habe, und die zunehmend in unseren Alltag kommen und daher als Zukunftserwartung greifbar werden, werden schon lange auch kritisch thematisiert und verarbeitet. Einen Ort dafür bietet das Mainstreamkino. Hollywood bietet seit Jahrzehnten regelmäßig und in erstaunlicher Menge Dystopien, und zwar in der Form von Post-Apokalypsen. Es taucht hier tatsächlich das biblische Genre der Apokalypse auf.

In der judenchristlichen Tradition wurden Apokalypsen geschrieben, um auf eine Bedrohung, ein Problem aufmerksam zu machen, das gesellschaftlich noch nicht im Bewusstsein war. Genau das tun auch die von Hollywood produzierten Apokalypsen.

Zur Zeit des Kalten Krieges wurde etwa auf die atomare Bedrohung aufmerksam gemacht, oder auf die Gefahr von Naturkatastrophen wie in „Armageddon“. Schon lange gibt es Apokalypsen, die auf den Klimawandel aufmerksam machen, wie etwa „Waterworld“, „Elysium“ oder in jüngerer Zeit „Interstellar“.

In „Interstellar“ wird die Erde von einer ökologischen Katastrophe bedroht, die sie unbewohnbar macht. Ein so genanntes Wurmloch eröffnet die Chance, mit Raumschiffen weite Strecken zurückzulegen, um in anderen Galaxien nach bewohnbaren Planeten zu suchen. Der Film erzählt von dieser Suche nach einem neuen bewohnbaren Ort für die Menschheit. Zu Beginn des Films wird erwähnt, dass das Wurmloch plötzlich erschienen sei, was als ein Geschenk einer höheren Macht, die die Menschheit retten will, gedeutet wird – vielleicht sogar von Gott? Am Ende zeigt sich, dass es der Mensch selbst ist, der sich und seine Spezies retten muss. Der Held des Films kann über ein schwarzes Loch in einen Zustand eintreten, in dem er in gewissen Maße Raum und Zeit transzendiert und somit zur Erde Informationen geben kann, die schließlich zur Rettung führen. Der Mensch selbst ist sich hier sein Gott geworden.

In den Hollywood-Filmen ist die Apokalypse meistens bereits eingetreten. Meistens wird daher auf den Zustand der Welt als „heil“ in früherer Zeit verwiesen. Wenn in der Zukunft die Vergangenheit als „heil“ verklärt wird, dann landen wir im Heute. Die Botschaft ist dann, unsere heutige Welt ist toll, wir Menschen müssen sie bewahren. Das hat einen hohen moralischen Impetus. Es evoziert aber doch die Frage, ob wir uns und den Zustand unserer Welt nicht maßlos überschätzen.

Eine funktionale Welt

Noch etwas anderes, grundlegenderes fällt auf. Alle beschriebenen Phänomene setzen an der körperlichen Ebene an. Es geht darum, wie der Körper des Menschen verändert werden kann, wie die äußerliche Umgebung gestaltet ist. Von einer Seele ist nirgendwo mehr die Rede, heute spricht man bestenfalls noch im metaphorischen Sinn von der Seele von etwas. Dahinter steckt wiederum die Erfahrung von technischem Fortschritt und damit vom Erfolg der Naturwissenschaften, die die Technik ermöglichen.

Die Naturwissenschaften verstehen die Welt aus einer bestimmten Brille heraus, sie analysieren sie funktional, indem sie Kausalketten bilden. Genau diese Logik hat den Naturwissenschaften zu ihrem durchschlagenden Erfolg verholfen.

Was das emotional bedeutet, lässt sich vielleicht durch die Erkenntnis der Funktion des Herzens erahnen. Wir haben noch die Vorstellung vom Herz als Sitz von Gefühlen, ja von Liebe in unserer Bildsprache. Das Herz war immer ein emotional aufgeladenes Organ. Wie ging es wohl den Menschen im 19. Jahrhundert damit, als das Herz als Sitz von Gefühlen aufgelöst wurde, indem es rein funktional als Pumpe beschrieben wurde. Es ist also ganz nett, das Herz als Symbol für Liebe zu benutzen, aber es ist in Wahrheit nichts anderes als eine Pumpe, war die Erkenntnis. Das „in Wahrheit“ markiert die „Entzauberung der Welt“, wie es der Soziologe Max Weber beschrieb. Wir wissen jetzt dank der Naturwissenschaften, wie die Welt wirklich ist, ohne dass wir auf Gespenster, Gefühle und Gott rekurrieren müssten.

Der Erfolg der Naturwissenschaften hat also unser Weltbild verändert. Religiöse Vorstellungen von Gott und von einem Jenseits wurden entweder überflüssig und durch innerweltliche Utopien ersetzt, oder sogar explizit abgelehnt: Das Jenseits, die Vorstellungen von Himmel und Hölle, sind dann eine billige Vertröstung.

Vertrauen in die Technik

Positiv sind wir heute von Technikvertrauen geprägt. Wir moderne Menschen glauben mehrheitlich daran, dass wir Probleme mit neuer Technik lösen können. Das können wir aktuell an den Diskussionen um den Klimawandel sehen. Ich vermute, dass alle, gleich welcher politischen Couleur, davon ausgehen, dass diesem vor allem mit neuer Technik begegnet werden muss.

Mit dem Technikvertrauen kommt ein Vertrauen in unsere eigenen Fähigkeiten. Wir Menschen sind zumeist davon überzeugt, dass wir die Welt gestalten und die Natur im Griff haben.

Wir haben kein Jenseits mehr nötig, weil wir das Diesseits beherrschen. Der Himmel ist nicht ein Zustand außerhalb der Welt, sondern Auftrag, die Welt zu verändern.

Das ist gut so, und zwar so lange, wie wir es als moralischen Auftrag nehmen, die Welt gerechter, solidarischer, lebenswerter zu machen. Das ist ja auch eine ur-religiöse Botschaft. Wenn Jesus in den Evangelien das Reich Gottes predigt, dann geht es nicht nur um einen entfernten, außerweltlichen Zustand, der im Gegensatz zu unserer Welt im Hier und Jetzt zu verstehen wäre. Das Reich Gottes ist auch ein Auftrag an uns, unser Bestes zu geben, es hier zu verwirklichen.

Das Problem ist ein anderes. Wenn wir uns vorbehaltlos in die naturwissenschaftliche Logik begeben, sehen wir die Welt rein funktional. Solange wir das als einen Zugang an die Welt sehen, führt das zu starken Erkenntnissen. Was man aber tatsächlich feststellen kann, ist, dass dieses funktionale Denken auch gesellschaftlich um sich greift. Dazu gibt es Langzeitstudien, die die Zunahme funktionalen Denkens nachweisen. Man kann das auf vielen Feldern zeigen, in denen eine Ökonomisierung fortschreitet, bis hin zur Bildung oder zum Gesundheitswesen, und auch auf der ganz persönlichen Beziehungsebene.

Die Angst, die uns Technik heute machen kann, liegt auch darin begründet, dass sie unsere Beziehungen immer funktionaler werden lässt. Das kann dann der Fall sein, wenn wir uns nur noch in sozialen Medien aufhalten, die eine Echokammer erzeugen, in denen wir nur nach Bestätigung der eigenen Meinung suchen. Wir wollen uns dort nicht in Frage stellen lassen, der*die andere ist keine Anfrage mehr, wird von uns nicht als anderes Individuum ernstgenommen. Algorithmen der sozialen Medien sind momentan zumeist so programmiert, dass sie uns in derartigen Echokammern halten. Beziehung ist hier nicht mehr lebendig, sie wird flach und oberflächlich.

Das ist offensichtlich ein gesellschaftliches Problem. Ich halte es aber noch viel mehr für ein Problem unserer eigenen Menschlichkeit. Und es ist ein Gegenkonzept zu dem, was Religion, was das Christentum will. Es geht hier nämlich darum, dass wir uns anrühren lassen, dass wir uns in Frage stellen lassen, und zwar nicht nur von anderen Menschen, sondern von dem anderen schlechthin, von Gott. Manchmal muss man sich schon fragen, ob es uns in dieser Gesellschaft nur noch um uns selbst geht, um unseren eigenen Vorteil, um unsere eigene Freiheit.

Sinnstiftung jenseits des Nutzenkalküls

Und das hängt mit einem letzten Punkt zusammen, den ich hier als Folge der Technisierung der Welt benennen möchte: Mit dem Vertrauen in die Technik und in die Fähigkeit des Menschen schwand die Notwendigkeit, an ein Leben nach dem Tod zu glauben. Wir wollen im Hier und Jetzt ein tolles, selbstbestimmtes, erfülltes Leben haben, wir wollen uns den Himmel auf Erden selbst schaffen. Wir wollen möglichst viel erleben, unser Maßstab für unser Leben sind wir selbst.

Die christliche Botschaft ist eine andere. Hier gibt es einen letzten Bezug, der diese Welt übersteigt. Und das ist keine sinnlose Illusion, keine billige Vertröstung. Es bedeutet: Wir Menschen müssen uns den Himmel gar nicht auf die Erde holen. Wir müssen gar nicht alles selbst schaffen. Es gibt eine letzte Gerechtigkeit außerhalb dieser Welt.

Ich muss gar nicht perfekt funktionieren. Ich muss auch nicht alles auf der Erde erleben. Ich muss nicht unendlich leben. Wir sind schon unsterblich. Und zwar nicht, weil wir das mittels Technik selbst schaffen müssen, sondern weil es uns geschenkt ist. Wenn ich das an mich heranlasse, dann ist das eine ungemeine Entlastung. Es ist nicht schlimm, hier auf Erden etwas zu verpassen. Mein Wert bemisst sich nicht darin, was ich hier auf Erden leiste, und auch nicht darin, was ich hier verdiene. Der Sinn meines Lebens erschöpft sich nicht darin, wie ich hier funktioniere. Der Mensch ist mehr als das, was er kann und tut. Wir sind aufgehoben in Gott.

Das ist auf der einen Seite ungemein tröstlich. Auf der anderen Seite erfüllt es mit Demut. Der Mensch fügt sich ein in das Große und Ganze, fängt wieder an zuzuhören, die Würde der und des anderen ernst zu nehmen. Und es relativiert. Auch die eingangs benannten technischen Entwicklungen. Was auch immer wir entwickeln, das letzte Wort hat jemand anderes. Das erscheint mir die befreiende Botschaft des Christentums zu sein: Es feiert, dass nichts in der Welt, nicht einmal der Tod und schon gar nicht Technik oder ein bestimmter Mensch, das letzte Wort hat.

Damit lässt sich auch die Technik und der von ihr evozierte Wandel relativieren. Die Technik ist nicht das Problem. Die Frage ist also nicht, welche Technik wir benutzen, sondern wie. Die Allmachtsphantasien, der Glaube an die Perfektionierung des Menschen, die Verflachung von Beziehungen, die Einseitigkeiten, die funktionale Weltsicht – das ist das Problem. Der Vorstandsvorsitzender von Apple Tim Cook hat einmal gesagt: »Ich sorge mich nicht um Maschinen, die denken wie Menschen. Ich sorge mich um Menschen, die denken wie Maschinen.« Wie wahr.

Parick Becker ist Inhaber der Professur für Fundamentaltheologie und Religionswissenschaft an unserer Fakultät. Mehr Informationen zu seiner Forschung finden Sie auf der Seite der Professur

Zur Website