Die Gegenwart im Lichte Heideggers Gedanken betrachten & seine Philosophie kritisch hinterfragen: Der Vorsitzende Holger Zaborowski spricht über die Martin-Heidegger-Gesellschaft

Forschung & Wissenschaft , Personalia
Bände der Heidegger Gesamtausgabe in einer Vitirne
Prof. Dr. Dr. Holger Zaborowski
Prof. Dr. Dr. Holger Zaborowski

Sie sind seit letztem Jahr Vorsitzender der Martin-Heidegger-Gesellschaft. Was macht Ihrer Meinung nach die aktuelle Heidegger-Forschung aus und welche Akzente hoffen Sie als Vorsitzender setzen zu können?

Heidegger hat ein äußerst umfangreiches, vielfältiges und auch herausforderndes Werk hinterlassen. Es besteht weiterhin weltweit ein großes Interesse an seinem Frühwerk, in dem er u. a. in der Auseinandersetzung mit seinem Lehrer Edmund Husserl erst zu „Heidegger“ wurde, an seinem Hauptwerk Sein und Zeit, einem Klassiker der Philosophie des 20. Jahrhunderts, der vor fast 100 Jahren veröffentlicht wurde, und an seinem Spätwerk, in dem Heidegger sich u. a. mit der Frage nach der Technik beschäftigt hat. Zur Zeit erscheinen die letzten Bände der Gesamtausgabe Heideggers. Damit liegen mehr als 100 Bände vor. In Zukunft werden auch noch wichtige Briefwechsel erscheinen. Die Forschung wird noch lange damit beschäftigt sein, diese Texte zu erschließen und in ihre Kontexte zu setzen, sie auch, wo notwendig, zu kritisieren und auf ihre Grenzen aufmerksam zu machen und nach ihrer bleibenden Bedeutung zu fragen. 

Als Vorsitzendem der Gesellschaft sind mir angesichts dieser Situation drei Anliegen besonders wichtig: Zunächst ist es mir ein Anliegen, Heideggers Denken verstärkt in ein Gespräch mit anderen philosophischen Schulen und mit aktuellen Fragen der Gegenwart zu bringen. Man kann Heideggers Denken nicht isolieren und muss, damit die Auseinandersetzung mit ihm lebendig bleibt, auch die gegenwärtigen Herausforderungen wie z. B. die Diskussion um Künstliche Intelligenz, um ökologische Fragen oder auch um die Rolle der Kunst oder der Dichtung in unserem stark technisch geprägten Zeitalter im Blick halten. Des Weiteren ist mir wichtig, die verschiedenen Zugänge zu Heidegger und die internationale Forschung noch stärker zu vernetzen und auch Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler verstärkt einzubeziehen und zu fördern. Immer wieder kommen deshalb auch jüngere Kolleginnen und Kollegen für eine kürzere Zeit nach Erfurt.

Die Philosophie Martin Heideggers hat eine sehr interessante und bewegte Rezeptionsgeschichte, gerade auch auf einer globalen Ebene betrachtet. Können Sie uns hierzu ein paar Beispiele geben? Wie blicken Ihrer Erfahrung nach Forscher*innen aus unterschiedlichen Ländern auf Heidegger? 

Heideggers Philosophie wird tatsächlich sehr breit rezipiert. Sein Denken wird nicht nur in der Philosophie, sondern in vielen anderen akademischen Disziplinen – in der Theologie, in den Literatur-, Kunst- und Sozialwissenschaften, in der Pädagogik, aber auch in der Psychiatrie und in der Psychotherapie – rezipiert. Zudem wird Heideggers Werk auch sehr stark im nicht-akademischen Bereich gelesen und aufgegriffen – so etwa in der Kunst oder in der Literatur. Wenn man ganz kurz beantworten will, warum Heidegger so breit rezipiert wird, wird man auf die Vielfältigkeit seines Denkens verweisen müssen. Ob man sich für griechische oder moderne Philosophie, für Technik, Kunst oder Sprache oder für Logik, Ethik oder Ontologie interessiert, Heidegger eröffnet für einen jeden neue Perspektiven. 

Und die Rezeption erfolgt tatsächlich global. Es gibt nicht nur in Frankreich, Spanien oder Italien eine sehr intensive Rezeption von Heideggers Denken, sondern auch in Nord- und Südamerika oder in vielen asiatischen Ländern, in Südkorea, Japan oder China. Vor kurzem war ein Kollege aus Südkorea hier in Erfurt. Er sagte, dass Heidegger ihm dabei geholfen habe, seine eigene Kultur besser zu verstehen. In der Tat spielt Heidegger im Bereich der interkulturellen Philosophie eine besondere Rolle. Ein wichtiger Grund dafür liegt darin, dass er u. a. die Geschichtlichkeit unserer eigenen philosophischen Tradition in den Mittelpunkt seiner Überlegungen gestellt hat. Dabei hat er sich selbst mit asiatischen Denktraditionen beschäftigt und auch den Dialog mit diesen Traditionen gesucht. Weil er also selbst schon ein Brückenbauer gewesen ist, kann man mit seinem Denken auch Brücken – des Austauschs, des Dialogs und des Verständnisses – bauen. Das ist gerade heute, in einer Zeit, in der die Welt sich wieder in verschiedene „Blöcke“ aufteilt, besonders wichtig. 

Heideggers Philosophie wurde in der jüngeren Vergangenheit auch sehr kontrovers diskutiert, vor allem nach dem Erscheinen der so genannten „Schwarzen Hefte“ im Jahr 2014. Können Sie kurz zusammenfassen, worum es dabei ging, und Ihre eigene Position zu dieser Debatte erläutern?

In den letzten Jahrzehnten wurde immer wieder Heideggers Verhältnis zum Nationalsozialismus, sein Antisemitismus und auch die politischen Dimensionen seines Denkens intensiv diskutiert. Die Veröffentlichung der sog. „Schwarzen Hefte“ hat diese Diskussion fortgeführt und vertieft. Stark vereinfacht kann man sagen, dass recht prominent zwei gegensätzliche Thesen in dieser Diskussion vertreten werden: Auf der einen Seite wird die These vertreten, Heideggers Denken sei aufgrund seiner politischen Aspekte hochproblematisch und könne daher auch nicht mehr oder nur noch sehr beschränkt positiv rezipiert werden. Auch die Rezeptionsgeschichte müsse kritisch befragt werden. Auf der anderen Seite findet sich die These, man müsse zwischen Heideggers Philosophie und seiner „Politik“ stark trennen. In meiner eigenen Arbeit versuche ich einen Mittelweg zu gehen. Ohne Zweifel gibt es problematische Aspekte seines Denkens, die auch entsprechend kritisch zu diskutieren sind. Eine falsche Zurückhaltung wäre hier ganz fehl am Platze – gerade weil Heidegger so ein bedeutender Denker ist. Nicht selten findet man sogar bei Heidegger selbst die Anstöße, sein eigenes Werk kritisch zu lesen. Ihm war durchaus bewusst, dass er auch in die Irre gegangen war. Wenn man das beachtet, kann man viel von Heidegger lernen, und zwar sowohl von seinen bleibenden philosophischen Einsichten als auch von den Irrwegen. 

Lassen Sie uns ein bisschen weiter zurückblicken: Wie sind Sie zur Heidegger-Forschung gekommen? Können Sie sich noch an das erste Mal erinnern, dass Sie einen seiner Texte gelesen haben?

Ich war schon während meiner Schulzeit auf Heidegger gestoßen. Im Griechisch-Unterricht hatten wir uns intensiv mit Platon und der griechischen Metaphysik beschäftigt. Als ich dann in einer Buchhandlung Heideggers Freiburger Antrittsvorlesung „Was ist Metaphysik?“ fand, kaufte ich dieses kleine Büchlein. Denn ich dachte, es könne mir auf insgesamt recht wenigen Seiten erklären, was Metaphysik sei. Ich begann zu lesen und verstand zunächst einmal nichts. Aber ich war sofort fasziniert. Mir war klar, dass es sich lohnt, sich intensiver mit diesem Text und seinem Autor zu beschäftigen. Und das denke ich heute auch immer noch. Heidegger hat ein gigantisches Werk hinterlassen. Jeden Tag kann man Neues entdecken und wird zum Weiter- und vor allem zum Selberdenken angeregt. Das scheint mir auch die eigentliche Bedeutung von Heidegger zu sein. Heidegger will nicht, dass man ihm irgendwie sklavisch folgt und ein „Heideggerianer“ wird, also nur noch wiederholt, was er gesagt hat, und seinem Werk eine nahezu religiöse Bedeutung verleiht. Sein Anliegen besteht viel eher darin, dass seine Leser selbst zu denken beginnen. Und das ist zutiefst eine Sache der Freiheit – und gar nicht so einfach, weil es dann ja um uns selbst geht und wir nicht selten lieber dem, folgen, was andere uns sagen. Wenn man ihn so liest und versteht, ist Heidegger ein sehr radikaler Denker. Er fordert in einer Weise wie nur sehr wenige andere Denker heraus, seine eigenen Vorurteile in Frage zu stellen und neu sehen zu lernen. 

Sie sind Professor für Philosophie an einer theologischen Fakultät. Wie passen Heidegger und Theologie zusammen?

Zum einen gibt es historische Bezüge: Heidegger hat selbst zunächst katholische Theologie studiert, sich aber recht früh von der Theologie und auch von der katholischen Kirche distanziert. Wenn man sich vergegenwärtigt, welche Art der Theologie er zu Anfang des 20. Jahrhunderts erlebt hat, kann man das gut verstehen. Es war in Gestalt der Neuscholastik eine sehr abstrakte und lebensferne Theologie. Zugleich hat er eine jüngere Generation von katholischen Denkern – Theologen und Philosophen – sehr stark geprägt. Sein Denken hat vielen geholfen, neu über das, welche Rolle Freiheit, Sprache oder Geschichte für den Glauben spielen und was dieser eigentlich, von seinem Ursprung her besagt, nachzudenken. Man kann hier u. a. an den katholischen Theologen Karl Rahner, den Freiburger Religionsphilosophen Bernhard Welte oder auch an den evangelischen Neutestamentler Rudolf Bultmann denken. Vermutlich hat kein Philosoph des 20. Jahrhunderts die christliche Theologie so stark beeinflusst wie Martin Heidegger. Heidegger bleibt aber auch für die gegenwärtige Theologie aktuell. Wenn es gilt, über den Menschen, über Gott und die Gottesrede, über Schöpfung, Offenbarung und Erlösung nachzudenken, kann Heideggers Denken immer noch ein wichtiger Gesprächspartner sein – oder auch Denker, die ihrerseits stark von Heidegger geprägt wurden. Hier könnte man an die französischen Philosophen Emmanuel Levinas, Paul Ricouer, Jacques Derrida oder Jean-Luc Marion denken. 

In Forschung und Wissenschaft hat sich in den letzten Jahrzehnten viel verändert. Welche Bedeutung würden Sie heute akademischen Gesellschaften wie der Martin-Heidegger-Gesellschaft zuschreiben?

Früher hatten Fachgesellschaften vornehmlich die Funktion, Menschen zusammenzubringen, zu vernetzen und über das, was in der Forschung läuft, zu informieren. Das ist zwar immer noch wichtig, kann heute aber auch anders erreicht werden. Heute kann man nämlich leicht im Internet Menschen mit ähnlichen Interessen finden und sich mit ihnen vernetzen. Das bedeutet aber nicht, dass diese Gesellschaften nicht weiter von Bedeutung sind. Denn sie organisieren z. B. Tagungen, die persönliche Begegnungen und Austausch erlauben. Das ist immer noch sehr wichtig. Oder sie ermöglichen die Förderung jüngerer Wissenschaftlerinnern und Wissenschaftler, die Vernetzung auf internationaler Ebene oder die Publikation von Forschungsbeiträgen. Je größer eine Gesellschaft ist, umso mehr kann sie auch bewirken. 

Zum Schluss noch ein Blick in die nahe Zukunft: Vom 19. bis zum 21. September findet in Meßkirch die Jahrestagung der Martin-Heidegger-Gesellschaft statt. Worum geht es bei der diesjährigen Tagung?

Das Thema der diesjährigen Tagung lautet „Heidegger und die Frage nach dem Nihilismus“. Ab Mitte der 1930er Jahre hat sich Heidegger intensiv mit dem neuzeitlichen Nihilismus – also mit der Philosophie Friedrich Nietzsches und der Erfahrung, dass es mit allem letztlich nichts sei, dass alles sinnlos sei – auseinandergesetzt. Heidegger hat eine eigene Deutung dieses Zeitalters vorgelegt, die nach wie vor interessant ist. Für ihn gehört der Nihilismus zutiefst zur westlichen Philosophiegeschichte. In diesem Zusammenhang hat er sich auch intensiv mit der Technik auseinandergesetzt. Denn seiner Ansicht vollendet sich die westliche Philosophiegeschichte in der Technik. Dabei hat er immer wieder auch danach gefragt, wie sich der Nihilismus „verwinden“ lasse und was nach dem Nihilismus kommen könnte. Auch wenn man nicht allen Einzelheiten von Heideggers Deutung folgen mag oder kann, bieten seine Gedanken zur Geschichte der Philosophie, zur Neuzeit und zum „Wesen der Technik“ viele Anregungen für aktuelle Debatten. Daher geht es auf der Tagung nicht nur darum, Heideggers Auseinandersetzung mit dem Nihilismus rein historisch zu erarbeiten. Es sollen auch gegenwärtige Herausforderungen bedacht werden. Heidegger ist in gewisser Weise immer noch ein „Zeitgenosse“. Man kann sich von ihm herausfordern lassen und die Gegenwart im Lichte seiner Gedanken betrachten – und man kann und muss umgekehrt seine Überlegungen auch in das Licht der Gegenwart stellen und kritisch auf das befragen, was bleibt und weiterhin zu denken gibt. Das ist eine spannende Aufgabe. Hier ist übrigens das Programm der Tagung: https://www.heidegger-gesellschaft.de/tagungen/

Prof. Dr. Dr. Holger Zaborowski ist Inhaber der Professur für Philosophie an unserer Fakultät. Mehr Informationen zu seiner Forschung und Biographie finden Sie auf der Website der Professur. 

Zur Professurseite