Jette Hollmann ist Studentische Assistentin an der Professur für Dogmatik.
Inklusion polarisiert in der Gesellschaft und erfährt vor allem medial große Aufmerksamkeit. Dabei wird der Inklusionsbegriff oft zum Politikum oder zum Bluewashing-Instrument, indem Unternehmen sich nach außen hin ein „inklusives“ Image geben, ohne jedoch tiefgreifende strukturelle Veränderungen vorzunehmen. Die konkreten Anforderungen an den einzelnen Menschen, der an Inklusionsbestrebungen partizipieren möchte, sind oftmals unklar. Der Inklusionsprozess wird dann rasch an Institutionen und den Staat „abgeladen“. Aber wie kann der Mensch aktiv zu einer inklusiveren Gesellschaft beitragen? Können die „alten“ Tugenden der Solidarität und der Demut dabei helfen, Inklusionsprozesse voranzutreiben? Wie passen moderne Inklusionsvorhaben und die vermeintlich altmodische Tugendethik zusammen? Und was ist das überhaupt: Inklusion, Solidarität, Demut?
Der Begriff der Inklusion wird interdisziplinär verwendet; die Bedeutung changiert je nach Kontext. Hier ist gemeint, dass gesellschaftliche Bedingungen und Strukturen so anzupassen und zu gestalten sind, dass allen, die darin leben, eine gleichberechtigte Teilhabe ermöglicht wird. Alle Menschen sollen gleiche Chancen haben, unabhängig von ihrer Ethnie, sexuellen Orientierung, Religionszugehörigkeit, Behinderung oder anderen Merkmalen des Menschseins. Chancengleichheit bezieht sich dabei vor allem auf die Bereiche der Lebensbewältigung und der gleichberechtigten Teilhabe am gesellschaftlichen Leben.
Im Folgenden liegt der Fokus auf Inklusion und Teilhabe von Menschen mit Behinderung. Hierbei meint Behinderung die Wechselwirkung zwischen individuellen, körperlichen oder kognitiven Einschränkungen und den Barrieren in der physischen, sozialen und kulturellen Umwelt. Das Leitprinzip der Inklusion setzt bei der Veränderung der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und Strukturen an.
Allen Menschen echte gesellschaftliche Teilhabe zu ermöglichen bedeutet, materielle und immaterielle Barrieren solcher Teilhabe zu erkennen und abzuschaffen und die in diesen Barrieren begründete Exklusion aufzulösen.
Verantwortlich sind dabei jedoch nicht allein übergeordnete Instanzen wie beispielsweise Bildungsinstitutionen. Inklusion ist ein gesamtgesellschaftlicher Prozess und Auftrag. Inklusion ist Aufgabe aller Menschen. Denn gesellschaftliche Barrieren von Teilhabe werden nicht einfach durch eine Verordnung überwunden.
„Inklusion ist (...) nicht nur eine Angelegenheit der Politik. Sie ist zuallererst auch eine Haltungsfrage, sie braucht Verbündete und Mitstreiter. Jede und jeder einzelne ist gefragt“[1].
Nötig ist eine Veränderung von innen, aktives Handeln und der Wille aller, mit und ohne Behinderung, Barrieren zu überwinden. Jede:r Einzelne ist gefordert, sich für mehr Inklusion einzusetzen und eine inklusivere Welt mitzugestalten. Jede:r Einzelne ist aufgerufen, so zu interagieren, dass jeder Mitmensch in seinem individuellen Sein, seiner Würde und seinen Bedürfnissen wahrgenommen wird. Das lässt sich auch religiös übersetzen: Inklusion hilft dabei, die von Gott gegebene Würde eines jeden Menschen zu achten und erfahrbar zu machen. Ziel des Inklusionsprozesses ist die ganzheitliche Entfaltung jedes Menschen in seiner Lebenswelt.
Was heißt das konkret? Und inwiefern kann die alte christliche Tugendethik zu einer inklusiven Lebensführung beitragen? Was ist eigentlich eine „Tugend“?
Tugenden sind stabile Charaktereigenschaften, die den Menschen zu guten, also positiv bewerteten Handlungen befähigen. Dieses Verständnis hat seinen Ursprung in der Antike und ist vor allem durch die Tugendkonzeption des Aristoteles geprägt. Nach Aristoteles bezeichnet eine Tugend eine „zur zuverlässigen Gewohnheit gewordene Haltung, einen Habitus“[2]. Konkret bedeutet das: Wer tugendhaft handelt, tut dies nicht nur situativ, sondern zuverlässig und gewohnheitsmäßig aus einer inneren Haltung heraus. Die christliche Adaption der antiken Tugendlehre verknüpft dabei das habituelle Moment mit der gottgewirkten Gnade; aktives Handeln und passives Empfangen sind untrennbar in der Tugend verbunden.
Tugendethik beschäftigt sich grundsätzlich mit der Frage, welche Charaktereigenschaften ein Mensch besitzen sollte, um moralisch gut handeln zu können. Die christliche Tugendethik verbindet dabei das Kernstück der christlichen Lebensgestaltung – die theologischen Tugenden Glaube, Liebe und Hoffnung – mit den antiken Kardinaltugenden Klugheit, Gerechtigkeit, Tapferkeit und Mäßigung.
Neben diesen „klassischen“ christlichen Tugenden lassen sich weitere ableiten, die sich in der christlichen Lebensführung und den Herausforderungen der gegenwärtigen Lebenswelt begründen. Hier soll der Fokus auf den sozialen Tugenden der Solidarität und der Demut liegen: Wie können diese dem aktuellen Inklusionsprozess nützen?
Solidarität: Solidarisch zu handeln bedeutet, sich in der Interaktion mit der Umwelt und den Mitmenschen der eigenen Verantwortung bewusst zu sein.
Solidarisch zu handeln bedeutet, sich als verantwortlicher Teil der Gesellschaft zu begreifen und für eine sozial gerechte Lebenswirklichkeit einzusetzen. Aus christlicher Perspektive gründet die Tugend der Solidarität im Bewusstsein der Gottesebenbildlichkeit des Menschen (vgl. Gen 1,27). Der oder die Andere wird als Mitmensch mit unantastbarer Würde wahrgenommen. Liebe und Gerechtigkeit, Grundpfeiler einer christlichen Lebensführung, fordern solidarisches Handeln und eine Haltung der Solidarität im Umgang mit anderen, mit der sozialen Lebenswelt. Der Mensch steht im Zentrum, wie die Pastoralkonstitution des Zweiten Vatikanischen Konzils es betont:
„(…) alle müssen ihren Nächsten ohne Ausnahme als ein ‚anderes Ich‘ ansehen, vor allem auf sein Leben und die notwendigen Voraussetzungen eines menschenwürdigen Lebens bedacht.“ (Gaudium et Spes 27,8).
Die Tugend der Solidarität kann daher dazu beitragen, die Diskrepanz zwischen Selbstbezogenheit und Altruismus zu überwinden. Christ:in zu sein bedeutet, sich selbst als Solidarsubjekt zu begreifen und alle Menschen, deren Menschenwürde verletzt oder bedroht ist, als Adressat:innen solidarischen Handelns wahrzunehmen. Wenn Menschen solidarisch miteinander sind, übernehmen sie Verantwortung für die von Gott gegebene Würde eines jeden Menschen. Aus christlicher Perspektive zeigt sich das Potential der Solidarität in seinem Verständnis als eines habitus operativus: Gemeint ist nicht nur eine einzelne Handlung, sondern eine grundlegende Haltung, die konkretes Handeln und Agieren leitet. Der Moraltheologe Gunter Prüller-Jagenteufel beschreibt das so:
„Jedes Mal neu die Opfer zu suchen, für sie Partei zu ergreifen, ihnen aktuell zu helfen und zugleich sich um strukturelle Veränderungen zu bemühen, das ist das Grundanliegen einer christlich verstandenen Solidarität. Und das nicht nur zu sagen und zu fordern, sondern auch selbst zu tun, das macht den Kern der Tugend aus - der ‚christlichen Tugend‘ der Solidarität.“[3]
Solidarisch zu sein bedeutet immer auch, ein Bewusstsein dafür auszubilden, wie man selbst und der oder die Andere sozial situiert ist. Eine Haltung der Solidarität zeigt sich in konkreten Handlungen, wenn man sich sowohl seiner selbst als auch der Anderen und ihrer Bedürfnisse bewusst ist. So geschieht zumindest eine Annäherung an das Ideal sozialer Gerechtigkeit. Es geht darum, im konkreten Handeln interpersonell und strukturell Veränderungen zu erzielen, um an einer Lebenswelt mitzuwirken und diese mitzugestalten, welche auf die ganzheitliche Entfaltung und Entwicklung eines jeden Menschen hin ausgerichtet ist.
Und die Demut? Auch die Tugend der Demut lässt sich „entstauben“ und für die Herausforderungen des Inklusionsprozesses heute fruchtbar machen. Gegenwärtig assoziieren viele mit „Demut“ vor allem ein Repressionsinstrument. Zu oft wurde Demut in Kirche, Gesellschaft und Politik strategisch benutzt und zweckentfremdet, um Machtasymmetrien zu schaffen oder abzusichern. So ist „Demut“ heute vor allem negativ konnotiert. Wie kann die Tugend der Demut dennoch produktiv und handlungsleitend für Menschen im Inklusionsprozess sein? Kann Demut heute auch dazu beitragen, Machtasymmetrien und Einschränkungen sozialer Gerechtigkeit zu überwinden?
Demut, verstanden als existenzielle Haltung des Menschen vor Gott, basiert auf einem Umbruch, einer Umkehr: Demut meint, die Größe Gottes und seine Gegenwart in jedem Menschen als Geschöpf Gottes wahrzunehmen und zu achten.
In der Praxis drückt sie sich aus „in der Spannung zwischen Selbstbehauptung und freiwilliger Selbsthingabe im Dienste und in der Verantwortung vor Gott und gegenüber anderen, vor allem den Schwächeren“[4]. Recht verstanden bedeutet die Haltung der Demut für Christ:innen also gerade keine Unterwürfigkeit oder Obrigkeitshörigkeit, gerade keine Zustimmung zu einem hierarchischen Machtgefälle. Gemeint sind vielmehr Wachsamkeit und Dienstbereitschaft – aus der von Gott gegebenen Würde und Freiheit heraus. Menschen, die in diesem guten Sinne Demut kultivieren, wissen sich beauftragt, dazu beizutragen, dass sich alle Menschen individuell entfalten und ein menschenwürdiges Leben führen können.
Solidarität und Demut – wie können diese christlich ausgelegten Tugenden handlungsleitend werden? Inwiefern können sie dazu beitragen, dass Christ:innen sich in den gesellschaftlichen Inklusionsprozess einbringen? Inklusion setzt, wie skizziert, auf eine strukturelle Veränderung der Rahmenbedingungen des gesellschaftlichen Zusammenlebens. Das gelingt aber nur durch das Zusammenwirken aller, die eine Gesellschaft konstituieren. Eine bewusste Haltung und aktives Handeln eines jeden Menschen sind nötig. Soziale Gerechtigkeit und soziale Liebe sind Grundpfeiler einer christlichen Lebensführung – und wichtige Zielmarken eines gelungenen Inklusionsprozesses. Die Tugenden der Solidarität und der Demut tragen dazu bei, diesen Prozess mit Leben zu füllen. Solidarisch handelt, demütig verhält sich, wer sich selbst kennt und um seine Verankerung in seiner (sozialen) Welt weiß. Wer über sich selbst hinausblickt und wahrnimmt, wenn Menschenrechte gebrochen werden, wenn die Würde des Mitmenschen angetastet wird. Wer Exklusion wahrnimmt und dazu beitragen will, sie zu überwinden. Wer ausgehend von diesem solidarischen Blick auf den Anderen und dem demütigen Blick auf sich selbst ins Handeln kommt.
Menschen mit Behinderung haben in unserer Gesellschaft nur unzureichend Zugang zur gesamtgesellschaftlichen Teilhabe. Als Christ:in gilt es, sich durch ein solidarisches Verständnis der gegenwärtigen Missstände bewusst zu werden und konkrete Konsequenzen für das eigene Handeln abzuleiten: Wo und wie kann ich an der Umsetzung der Inklusionsbestrebungen aktiv mitwirken? Das Spektrum ist groß und reicht vom „klassischen“ ehrenamtlichen Engagement in inklusiven Verbänden und kommunalen Projekten über einen sensiblen Sprachgebrauch, der sich ableistischer, also diskriminierender Begriffe und Sprachbilder gegenüber Menschen mit Behinderungen bewusst ist und diese vermeidet, bis hin zu Wahlentscheidungen, die Inklusion als politisches Ziel unterstützen.
Die Tugend der Demut macht aufmerksam darauf, wie sehr wir Menschen miteinander verbunden, wie dicht unsere Leben miteinander verwoben sind. Sie lässt den Menschen wachsam sein in seiner Weise zu leben. Eine Haltung der Demut kann dafür sensibilisieren, was alles möglich ist, um den Inklusionsprozess zu befördern: Ein:e Unternehmer:in kann sich dafür entscheiden, eine barriereärmere Arbeitsumgebung zu schaffen. Eltern können sich dafür entscheiden, ihr Kind in einem inklusiven Kindergarten anzumelden, um ihm Erfahrungsräume zu eröffnen, die vielfältige Begegnungen fördern. Anwohner:innen können sich in Nachbarschaftsinitiativen für barrierefreie Fußwege in ihrem Stadtteil einsetzen und so den Inklusionsprozess auf lokaler Ebene mitgestalten. Demut bedeutet Aufmerksamkeit, auch in kleinen und alltäglichen Entscheidungen. So werden die Inklusionsbestrebungen als ganzheitlicher Prozess begreifbar, der aktive Partizipation aller in allen Bereichen der gesellschaftlichen Teilhabe erfordert.
Wenn Menschen in Solidarität und Demut handeln, können sie Verantwortung für Inklusion übernehmen.
Sie haben die Möglichkeit, ihren Platz im Prozess zu finden und aktiv zu einer inklusiveren Gesellschaft beizutragen. Der Verweis auf die alte Tugendethik, auf Haltungen und Eigenverantwortung, ist somit Hilfe und Ansporn, das Gelingen des Inklusionsprozesses nicht bloß den Anderen zu überantworten oder an übergeordnete (staatliche) Instanzen abzugeben. Sondern jeder einzelne Mensch ist verantwortlich – und jeder einzelne Mensch kann im guten Sinne wirksam werden. Solidarität und Demut können dabei helfen, Inklusionsbestrebungen als Aufgabe und Herausforderung anzunehmen. Sie können ein Fundament sein, auf dem Anteilnahme und Achtsamkeit gedeihen. Damit Inklusion Realität wird.
[1] Beauftragter der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderung, Die UN- Behindertenrechtskonvention. Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen, o.O. November 2018, online: www.institut-fuer-menschenrechte.de/fileadmin/Redaktion/PDF/DB_Menschenrechtsschutz/CRPD/CRPD_Konvention_und_Fakultativprotokoll.pdf (abgerufen am: 09.02.2025).
[2] Martin Honecker, Wege evangelischer Ethik. Positionen und Kontexte, Freiburg i. Br. 2002, 89.
[3] Gunter M. Prüller-Jagenteufel, „... zweifellos eine christliche Tugend". Bedeutung und Wandel des Solidaritätsgedankens in der katholischen Sozialverkündigung, in: MThZ 53 (2002), 18–32, 32.
[4] Ingeborg Gabriel, Über Demut. Explorationen zu einer widerständigen Tugend, in: Elmar Mitterstieler (Hg.), Gottes andere Wange. Zumutung und Erlösung, Würzburg 2021, 109–116, 116.