Von Düsseldorf nach Erfurt, um einen Kassenschlager der Philosophiegeschichte zu erforschen: Ein Interview mit Matthias Ernst Bähr

Personalia
Der Erfurter Domplatz in der Abenddämmerung
Matthias Ernst Bähr
Matthias Ernst Bähr

Lieber Matthias, du bist seit September 2024 Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Professur für Philosophie. Dein Studium in Philosophie und Germanistik hast du in Düsseldorf absolviert. Was hat dich nach Erfurt verschlagen?

Erfurt habe ich seit jeher als ansprechende Stadt und attraktiven Universitätsstandort im Hinterkopf gehabt. Einige Düsseldorfer Kollegen haben mir von Erfurt vorgeschwärmt und ich muss gestehen, dass die mittelalterliche Erfurter Innenstadt fast so schön ist wie die Altstadt meiner Düsseldorfer Heimat. Als ich Anfang des letzten Jahres darauf aufmerksam geworden bin, dass Holger Zaborowski eine Stellenausschreibung geschaltet hat, die meinen Forschungsschwerpunkten in der Lebensphilosophie, Existenzphilosophie und Phänomenologie mit Schwerpunkt auf dem Denken Henri Bergsons und Martin Heideggers in besonderer Weise entsprach, habe ich mich gleich beworben – mit glücklichem Ausgang! Zaborowskis intensive Heidegger-Beschäftigung an der Schnittstelle zwischen Philosophie und Theologie habe ich stets mit großem Interesse verfolgt, sodass mir schnell klar wurde, ein ideales Umfeld für eine Vertiefung meiner Beschäftigung vorzufinden. 

Die positiven anfänglichen Assoziationen mit Erfurt haben sich beim ersten Besuch der Stadt zum Vorstellungsgespräch vollumfänglich bestätigt. Ich habe mich immer wieder dabei ertappt, mir bildlich auszumalen, hier zu leben und zu arbeiten – kein allzu schlechtes Zeichen, wie ich finde! Dass die Lehre der Katholisch-Theologischen Fakultät dann auch noch in den beeindruckenden, erhabenen Domräumlichkeiten stattfindet, hat es für mich nur noch attraktiver gemacht und vor allem das Gefühl ausgelöst, vor einer seltenen Chance zu stehen. Schließlich kann nicht jeder von sich behaupten, in der Kapelle doziert zu haben, in der Martin Luther zum Priester geweiht worden ist!

In deiner Dissertation beschäftigst du dich mit dem Zeitbegriff bei Martin Heidegger und Henri Bergson. Wie bist du auf dieses Thema gekommen? Haben dich lebens- und existenzphilosophische Fragestellungen schon immer interessiert?

Die Gründe für die Wahl meines Dissertationsthemas sind vielschichtig: Paradoxien haben mich schon immer gereizt und die Zeit scheint mir so etwas wie das Ur-Paradox bzw. das Paradox schlechthin zu sein. Unser unaufhörlicher Versuch, sie zu praktischen Zwecken zu fixieren und dadurch handhabbar zu machen, während sie uns gleichzeitig unter den Händen zerfließt, könnte widersprüchlicher kaum sein, und doch existiert sie auf ebendiese ambivalente Weise. Sie bildet den unhintergehbaren, fundamentalen Zusammenhang, in dem wir Welt und Selbst auslegen, während wir uns irgendwie zum Sein verhalten. Das sind einige systematische Anhaltspunkte, die zur Wahl meines Dissertationsthemas geführt haben. 

Zugleich handelt es sich bei der Zeit um eine Art (oder vielleicht sogar den) ,Kassenschlager‘ der Philosophiegeschichte, der sich entsprechend gewinnbringend und materialreich ausleuchten lässt. Mir macht es Spaß, die verschiedenen Dimensionen, in denen die Zeit philosophiehistorisch ausgelotet worden ist, in ein Verhältnis zu setzen. 

Die Lebens- und Existenzphilosophie sowie die Phänomenologie, zwischen denen ich mich als philosophischer ,Grenzgänger‘ bewege, begleiten mich von den Anfängen meines Studiums an. In Zeiten der Dominanz von analytischer Philosophie, Szientismus und Spezialismus war es mir immer ein Anliegen, auf die großen und ganzen Zusammenhänge zu blicken, in die die Einzelwissenschaften samt ihren bestimmten methodischen Zugängen eingebettet sind – und Rationalität auch dort aufzuschlüsseln, wo sie verborgener ist als in Reflexionen der Sprache und Methodologie. Das führte mich zu Bergson und Heidegger, an die Grenze zwischen Philosophie und Theologie in Erfurt – und letztlich zum Dissertationsthema.

Du arbeitest als jemand, der aus der Philosophie kommt, nun an einer theologischen Fakultät. Wie fühlst du dich bisher damit und welche Erfahrungen hast du gemacht?

Ich wurde wirklich sehr herzlich empfangen. Gleich an den ersten Tagen hier in Erfurt bin ich diversen WhatsApp-Gruppen hinzugefügt und sozial eng eingebunden worden. Mir wurde es leicht gemacht, mich nicht nur am neuen Arbeitsplatz, sondern auch in der neuen Lebenswelt einzufinden. Die Atmosphäre an der Fakultät ist familiär, was natürlich einerseits an ihrer Größe liegt (man läuft sich öfter über den Weg) und andererseits an den zuvorkommenden Menschen, die hier tätig sind. Ich fühle mich nicht an einem anonymen Ort. 

Gleichzeitig finde ich ein Forum fruchtbaren Austauschs vor, denn mein Arbeiten hat viele Berührungspunkte mit der Theologie. Der interdisziplinäre Kontakt interessiert mich und der weiter gefasste Begriff von Rationalität, der hier entgegen einer naturwissenschaftlichen Engführung des wissenschaftlichen Diskurses anzutreffen ist, macht es mir einfach, mich mit meinen philosophischen Interessen an einer Aufschlüsselung und Ergründung des zeitlichen Erlebenszusammenhanges auseinanderzusetzen. 

Nicht zuletzt Meister Eckhart, auf dessen Spuren sich jeder in Erfurt zwangsläufig bewegt und seine Vorstellung einer besonderen Nahbarkeit Gottes als dialogische Struktur in der Erfahrungswirklichkeit hat sich immer wieder als persönlicher Grenzbereich zwischen Philosophie und Theologie für mich herauskristallisiert. Ich bin zufrieden mit meiner neuen Situation und freue mich auf den weiteren Austausch und die kommenden Unternehmungen mit meinen neuen Kolleginnen und Kollegen, von denen einige in dieser kurzen Zeit bereits zu Freunden geworden sind.

Du lebst jetzt seit ungefähr drei Monaten (zumindest in Teilzeit) hier in Erfurt. Wie ist dein erster Eindruck von der Stadt?

Mein Eindruck von der Stadt ist hervorragend! Ich halte mich gerne in der Altstadt auf und bin jetzt schon dafür bekannt, sehr gerne ihre gastronomischen Angebote in Anspruch zu nehmen. Wer mit mir eine Stadtführung macht, wird große Teile der Restaurantlandschaft erkunden! Bisher ist mir ,Sightseeing‘ im klassischen Sinne noch nicht gelungen, das nehme ich mir für den Sommer vor, wenn mich das Wetter mehr dazu einlädt, das warme Büro zu verlassen. Lobend hervorheben möchte ich an dieser Stelle den Erfurter Weihnachtsmarkt, den ich erfreulicherweise schon besuchen durfte. Der Anblick des über der bunten Lichterlandschaft der Weihnachtsbuden thronenden beleuchteten Domes hat mich begeistert. Dort kam ich übrigens auch zum ersten Mal in Kontakt mit dem hervorragenden Erfurter Brückentrüffel. 

Auch die vielen interessanten Kirchorte, die auf Martin Luthers und Meister Eckhardts Spuren wandeln lassen, haben mir imponiert. Die Kirchengeschichte ist hier sehr greifbar und ich freue mich darauf, Lehre im Dom zu geben. Ich habe schon oft Familie und Freunde in der Stadt herumgeführt, die durchweg einen positiven Eindruck hinterlassen hat. Bemerkenswert ist auch das breite Kulturprogramm, mit dem die Stadt Erfurt aufwartet. Gefühlt im Wochenrhythmus wechseln sich Kulturevents aller Couleur am Domplatz ab, was die Stadt angenehm lebendig wirken lässt, wie ich finde. Ich fühle mich beruflich wie privat wohl und vor allem – als Pendler – nicht zwischen meinem Düsseldorfer Heimatraum und Erfurt zerrissen. Vielmehr erlebe ich beide Lebensorte in stimmiger gegenseitiger Ergänzung und Bereicherung, wozu der freundliche zwischenmenschliche Empfang an der Universität und die gemütliche Atmosphäre der Stadt ihren wesentlichen Teil beigetragen haben.

Martin Heidegger hat bekanntermaßen sehr gerne Zeit im Wald und auf Wanderungen verbracht. Bist du auch ein großer Naturfreund oder verbringst du deine Freizeit lieber anders?

Ich würde mich definitiv als Naturfreund bezeichnen. Ich gehe sehr gerne wandern und bin gespannt darauf, wenn die Temperaturen einladender sind, auch einmal den Thüringer Wald unsicher zu machen. Ansonsten verbringe ich viel Zeit mit meinem dreijährigen Neffen in Düsseldorf, der sehr energetisch ist und mich entsprechend ordentlich auf Trapp hält. Wenn dann noch Zeit bleibt, verfolge ich gerne die Fußballspiele von Fortuna Düsseldorf, für die ich – trotz Pendelei – nach wie vor eine Dauerkarte besitze, was sich aller Voraussicht nach auch nicht ändern wird. 

Ich habe außerdem ein gewisses Faible für Darts, das ich gerne verfolge und auch selbst spiele. In den letzten Jahren sind meine Darts-Fähigkeiten allerdings – wie ich mit Erschrecken feststellen musste – in demselben Maße eingerostet, wie meine kulinarischen Leidenschaften angewachsen sind. Daneben, Zeit mit meinem Neffen zu verbringen, ist meine größte Leidenschaft, wie sich schon angedeutet hat, nämlich schlichtweg, gut essen zu gehen. Das hat in Düsseldorf dazu geführt, dass ich mir einen gewissen Ruf erarbeitet habe, der sich auch in Erfurt schon, nach diesen wenigen Monaten, zu etablieren beginnt. Ich bin sehr froh, in Erfurt gute gastronomische Bedingungen vorfinde, um dieser Leidenschaft weiter nachzugehen.

Mehr Informationen zu Matthias Ernst Bähr finden Sie auf der Website der Professur für Philosophie.

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