Lebensabschnittspartner? Glaubensbiographien und kirchliche Lebensformen im Umbruch

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Tagungsteilnehmer*innen bei einer Posterpräsentation der Tagung “Lebensabschnittspartner? Glaubensbiographien und kirchliche Lebensformen im Umbruch”

Sind Glaube und Kirche heute nur noch “Lebensabschnittspartner” des Individuums? Wie gehen wir um mit sich verändernden Identitäten, mit Umbrüchen und Abbrüchen in Lebensläufen und Lebensformen? Mit diesen und ähnlichen Fragen beschäftigte sich die Tagung “Lebensabschnittspartner? Glaubensbiographien und kirchliche Lebensformen im Umbruch”, organisiert von Promovierenden des Theologischen Forschungskollegs an der Universität Erfurt, vom 8. bis 9. November im Erfurter Augustinerkloster. Gäste und Referent*innen aus der Geschichtswissenschaft, Soziologie, Psychologie sowie verschiedenen theologischen Fachdisziplinen und der kirchlichen Praxis des gesamten Bundesgebiets und darüber hinaus bereicherten den Diskurs. Ein Rückblick.

Anna Reinhardt
Anna Reinhardt

von Anna Reinhardt

Im rundum bücherregalbestückten Tagungsraum des Klosters, benannt nach dem Ordensgründer und großen Theologen Augustinus, wurden die knapp 40 Teilnehmer und Teilnehmerinnen durch die Doktorand*innen und Professor*innen des Theologischen Forschungskollegs begrüßt. Dominique-Marcel Kosack (Dogmatik), gemeinsam mit Anna Reinhardt (Kirchengeschichte) und Dominik Abel (Liturgiewissenschaft) Organisator der Tagung, verdeutlichte in seiner thematischen Hinführung, dass Theolog*innen heute angesichts von sich wandelndem Ich-Sein und kontextabhängiger Identitätsbildung vor die Frage gestellt seien, ob kirchliche Ideale von Lebensformen und stabilen Glaubensbiographien noch kompatibel seien mit der wirklichen Lebenspraxis der Menschen.

Identität im Wandel

Als Einstieg in die Thematik lenkte Dr. Pascal Eitler (Geschichtswissenschaft, Hannover) mit einer historischen Perspektive den Blick auf die politische Theologie der 1960er und 70er Jahre mit ihrem gesellschaftlichen Diskurs über Kirche und Politik. Beleuchtet wurde auch die Bewegung „New Age“, die in ihrem Ringen um Authentizität den Körper als Zugang zu einem ganzheitlichen Selbst herausstellte. Die Frage um geeignete Begrifflichkeiten von Ich – Selbst – Körper – Identität regte schon zu intensiver Diskussion an.

Von Dr. Julian Müller (Soziologie, München) erhielten die Tagungsteilnehmer Einblicke in sogenannte Konversionserzählungen: Menschen, die ihre bisherigen Vorstellungen und Lebensweisen radikal verändern, beispielsweise vegan werden oder das politische Lager wechseln, berichten in neuen Medienformaten über Ereignisse, die einen Umbruch oder Abbruch in ihrem Leben hervorriefen. Sie betrachten diesen Wandel nicht als einschränkende Selbstfestlegung, sondern sehen im Verzicht eine selbstgewählte Form des Freiheitsgewinns und der Sicherheit. Die mediale Präsenz solcher öffentlichen Bekenntnisse zu einer bestimmten Lebensform zeigt, dass Individualität heute ganz neu erzählt und auf Grundlage der eigenen Erfahrung legitimiert wird.

Die Beschreibung von Identität als fragmentarisch, fluide und fragil durch Dr. Viera Pirker (Praktische Theologie, Wien) führte daraufhin zu der Überlegung, dass Identität nie abgeschlossen, sondern immer im Wachstum inbegriffen sei. Die Sehnsucht sei das Wesen des Fragments und die heute Identität-Suchenden müssten mit den bestehenden Defiziten der Unabgeschlossenheit ihrer Identitätsbildung zu leben versuchen. Pastoraltheologisch wurde hier daran appelliert, in den Brüchen neue Chancen für neues Leben zu sehen und in einer „Pastoral der zweiten Entscheidungen“ zu lernen, mit sich verändernden Biographien, zerbrochenen Lebensentwürfen und Weiterentwicklungen umzugehen.

Zur abendlichen Posterpräsentation stellten sieben Promovierende bzw. Habilitierende ihre Projekte in prägnanten Zwei-Minuten-Slots vor. Die laufenden Arbeiten der teilnehmenden Nachwuchswissenschaftler wurden anschließend rege diskutiert und boten Gesprächsmaterial bis in die verwinkelten Tiefen des Klosterkellers, der den Gästen einen gemütlichen Tagesausklang bescherte.

Fragmentierte Glaubensbiografien

Der zweite Themenblock am Samstagmorgen konzentrierte sich zunächst auf die empirische Möglichkeit der Erfassung und Erhebung von Glaubensentwicklung und religiösen Stilen in der Psychologie. Dabei erläuterte Dr. Barbara Keller (Psychologie, Bielefeld) verwendete Kategorien für die Interpretation von Interviewaussagen und hob die Schwierigkeit der sprachlichen Deutung von Begriffen und Erzählungen hervor, beispielsweise die Unterschiede zwischen Glauben – Religion – Bekenntnis – Spiritualität.

Dogmatisch wurde nun von Prof. Dr. Veronika Hoffmann (Dogmatik, Fribourg/CH) der Blick auf zwei klar voneinander zu trennende Figurenkonstellationen gelenkt, die faktisch jedoch ineinandergreifen: „Fest stehen im Glauben“ und „Den je eigenen Weg gehen“. Stehen und Gehen beschreiben hier einerseits die Existenz einer festen, verlässlichen Glaubensgrundlage mit einer klaren Zielvorgabe, andererseits einen kontextuell veränderten Glauben angesichts der eigenen Identitäts-Veränderung, der individuell gestaltet wird, aber damit auch ein Stück weit beliebig werden kann. Die bisherigen systematisch-theologischen Stabilitätsvorstellungen des Glaubens stellen die Theologie heute vor die Aufgabe, Glauben dynamisch und offen zu denken.

Im folgenden Beitrag verdeutlichte Prof. Dr. Stephan Winter (Liturgiewissenschaft, Münster) den Zusammenhang von individuell erzählten Identitäten, von Erzählgemeinschaften und von weltgeschichtlich-religiösen Großerzählungen. Er plädierte für seelsorgliche Angebote, die von den spirituellen Bedürfnissen der Menschen her gedacht sind und für eine situative Kommunikation, die sich am Lebensstil Jesu – der Beziehung und Begegnung – orientiert.

Kirchliche und gesellschaftliche Lebensformen

Der dritte und letzte Tagungsabschnitt befasste sich mit drei Arten heutiger Lebensformen: dem Single-Sein, dem monastischen Leben und der Ehe. Während Ehe- und Ordensleben von der Kirche unterstützte Lebensformen darstellen, blieb der Status von Singles in der Kirche bisher unbeachtet.

Die Unterscheidung von Alleinstehen und Alleinleben im Beitrag von Prof. Dr. Annegret Reese-Schnitker (Religionspädagogik, Kassel) brachte eine erste Sensibilisierung für die Unterschiedlichkeit des Begriffs und der Lebensform Single. Weiter differenziert wurde dies anhand von Studien im Hinblick auf Alter, Bildungsgrad, Religiosität und Zufriedenheit von Singles. Als Perspektive für die pastorale Arbeit hob Reese-Schnitker hervor, sich für eine präzise Wahrnehmung von Lebensformen und für zielgruppen-spezifische sowie lebensformen-übergreifende pastorale Angebote einzusetzen.

Anschließend konnten die Teilnehmer einen Praxis-Bericht von P. Dr. Fidelis Ruppert OSB (Altabt der Abtei Münsterschwarzach) über die Erfahrung mit der benediktinischen „Stabilitas“ erleben. Lebenslange Bindung sei ein Abenteuer und Bleiben habe hier nichts mit Zurückbleiben zu tun, sondern beinhalte das Festhalten an gefällten Entscheidungen und das Bleiben bei einmal gegebenen Versprechen. Es sei ein Bleiben in der gewählten Gemeinschaft, an einem bestimmten Ort und ein geistliches Bleiben in der Gemeinschaft mit Gott, was nicht nur Verweilen, sondern ein ständiges Hinterfragen, Auseinandersetzen, Vorwärtsdrängen, im Gespräch bleiben bedeute. Trotz aller angesprochenen Brüchigkeit und Veränderbarkeit des Lebens wurde hier deutlich: „Dranbleiben“ ist eine wertvolle Investition.

Im abschließenden Beitrag nahm Prof. Dr. Dr. Jochen Sautermeister (Moraltheologie, Bonn) die Ehe als Lebensform in den Blick. Das Miteinanderleben zweier Menschen berge die Gefahr, statische Normen aufzustellen, die der Wirklichkeit nicht gerecht werden. Ehe sei aber Lebensgeschichte, Prozess, Dynamik und lege Lernbereitschaft und Authentizität als Gemeinschaftsermöglichung zugrunde. Wichtig sei vor allem, reflektions- und sprachfähig zu bleiben, nicht nur in der Ehe, sondern auch in der Betrachtung des theologischen Ehe-Konzepts, das auch einen möglichen Neuanfang im Scheitern in den Blick nehmen sollte.

Die Tagung schnitt somit aus verschiedenen Blickrichtungen und Fachdisziplinen ein für die Gesellschaft relevantes Thema an. Fraglich bleibt, welchen Platz Kirche heute im Hinblick auf sich verändernde Lebensformen und Biographien einnimmt, inwieweit sie Sprach- und Gesprächsfähigkeit und darin Plausibilität und Authentizität behält oder neu erlernen kann.

Die Autorin

Anna Reinhardt ist Doktorandin am Theologischen Forschungskolleg des Universität Erfurt. Sie forscht derzeit zu “Kirchlichen Initiativen zur deutsch-polnischen Versöhnung vor 1965. Kurt Reuter und sein Wirkungskreis”.

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