Foto: Lutz Edelhoff
„Da La Bohème keinen großen Eindruck auf die Zuschauer gemacht hatte, wird sie wohl auch keine tiefe Spur hinterlassen“, so das heftige Urteil des Kritikers Carlo Bersezio über die Uraufführung der Oper 1896 in Turin. Diese Geringschätzung steht im Einklang mit den meisten anderen Kritiken: sie attestiert La Bohème keine Resonanz beim Publikum und damit schlichtweg auch keine Bedeutung.
Wir wissen es heute besser: Zusammen mit Verdis Aida und Bizets Carmen zählt La Bohème zu den etwas spöttisch als ABC-Opern benannten, also den drei meistgespielten Opern überhaupt: In der Anzahl der Aufführungen nimmt sie die Spitzenposition etwa an der Metropolitan Opera in New York (vor den anderen beiden Aida und Carmen) ein, ist also hoch erfolgreich.
Doch der langfristige Megaerfolg von La Bohème war nicht ausgemacht, Giacomo Puccini (1858–1924) galt noch lange nach seinem Tod als zweitklassiger Komponist oder auch als „Komponist der kleinen Dinge“ (wie er sich selbst bezeichnet hatte). Die Bewertung der Oper etwa als kitschig muss von der Musikwissenschaft eingeordnet werden, an dieser Stelle soll es um eine kulturgeschichtliche Betrachtung gehen und damit die angeblich geringe Bedeutung der Oper. Es geht hier also um die Frage, warum uns La Bohème eben doch seit über 100 Jahren emotional packt und in ihren Bann schlägt.
Dass es sich um ein Jahrhundertthema handelt – oder sogar Jahrhundertethema, wie ich argumentieren werde –, zeigt sich bereits anhand der Entstehungszeit der Romanvorlage, die von Henri Murger (1822–1861) in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts geschaffen wurde. Er verfasste die Scènes de la bohème in den 1840er Jahren als hoch erfolgreichen Fortsetzungsroman, den er 1851 als Roman neu auflegte. Dieser Roman beeindruckte Puccini 50 Jahre später derart stark, dass er ihn als Vorlage für La Bohème nutzte. Das Thema war also Jahrzehnte später genauso eindrucksvoll und künstlerisch inspirierend.
Dabei ist der Plot, wie er in der Oper umgesetzt wurde, simpel: Mimì und Rodolfo wohnen im selben Haus, treffen sich eher zufällig eines Abends und verlieben sich unmittelbar. Er stellt sie am Weihnachtsmarkt seinen Freunden vor, beide trennen sich aber wieder, weil sie schwer krank ist und er zu mittellos, um ihr zu helfen. Todkrank kehrt sie wieder zu ihm zurück und stirbt in seinen Armen.
Nicht umsonst überschrieb Murger sein Werk als „Szenen“, es ging ihm also weniger um die Entwicklung der Geschichte als vielmehr um die Details, um die einzelnen ‚Szenen‘. Genau mit dieser Idee schuf Puccini mit viel Humor konkrete Alltagssituationen von vier Männern, die listig mit beständigen Geldsorgen umgehen mussten und doch auf ihre Kosten kamen.
Es zeigt sich viel Situationskomik, aber auch einige tiefsinnige Ironie. Beides funktioniert, weil sich La Bohème den Themen der Zeit stellt, und zwar nicht, indem sie offen reflektiert werden, sondern indem szenisch die Lebenswirklichkeit der Zeit verarbeitet und ironisiert wird.
Hier sind zuallererst die das 19. Jahrhundert zunehmend prägenden Naturwissenschaften sowie die Technik zu nennen. Diese mögen zwar im Stück nicht thematisiert sein. Indirekt finden sie sich in der künstlerischen Umsetzung, so etwa einer Tendenz zum Naturalismus. Er zeigt sich etwa in den präzisen Detaildarstellungen, die der naturwissenschaftlichen Methodik entsprechen und auch der Selbstbezeichnung Puccinis als „Meister der kleinen Dinge“, sowie im Rückgriff auf die Alltagssprache, die in der Oper abgehoben-antiquierten Formulierungen gegenübergestellt wird – auch hierin darf Ironie gesehen werden. Vor allem wird die naturwissenschaftliche Denkweise in einer Lebenseinstellung wirkmächtig, die in der Oper zu finden ist: Der Mensch, so kann man ihr entnehmen, ist letztlich durch Herkunft und Umfeld bestimmt und kann nur im Kleinen selbst entscheiden und gestalten.
Mit der Dominanz der Technik geht auch die das 19. Jahrhundert prägende Industrialisierung einher, die neben Vielem auch zur sozialen Verelendung einiger Gruppen führte. In diesen Schichten ging sozialer Halt verloren, hier liegt eine Entwurzelung vor. Auch das zeigt sich bei den Protagonist*innen der Oper.
Weiterhin wurde im 19. Jahrhundert der Nationalismus wichtig, der gerade die italienische Oper prägte. Im Unterschied zu heutigen Formen von Nationalismus, die exkludierend und kulturpessimistisch auftreten, war der Nationalismus im 19. Jahrhundert ein integratives, Aufbruch erzeugendes Projekt. Er war vorrangig mit Sprachräumen verknüpft; da in Italien jedoch der Rückgriff auf eine verbindende Hochsprache nur beschränkt gelang, wurde hier die Musik wichtig: So wurde Giuseppe Verdi (1813–1901) zur Galionsfigur der italienischen Einheit; auch Puccini war davon beeinflusst, so huldigte er Rom als neuer Hauptstadt in seiner Tosca. Der erhoffte Fortschritt zeigte sich allerdings in Italien nur in Teilen, so entstanden große Auswanderungswellen. Hier verstärken sich soziale Probleme, die die Industrialisierung erzeugte, und die in La Bohème den Rahmen der Handlung bilden.
Weiterhin setzt sich im 19. Jahrhundert die Säkularisierung durch, und das meint sowohl den Bedeutungsverlust der katholischen Kirche als auch überhaupt den Rückgang traditioneller Religiosität. Religion spielt in La Bohème nahezu keine Rolle, die zur Engelsfigur stilisierte Protagonistin Mimì kann heilig sein, obwohl sie nicht regelmäßig in den Gottesdienst geht – welch Unterschied zum vor zwei Jahren in den DomStufen-Festspielen aufgeführten Faust-Stoff, wo die Frage nach der Religion zur sprichwörtlichen „Gretchenfrage“ avancierte.
Prägend wurden im 19. Jahrhundert schließlich auch die zunehmende Individualisierung (wir leiden in der Oper mit Individuen), die Milieubildung (wir werden uns in ein spezifisches Milieu begeben) und die Marktorientierung. Diese steht in der naturwissenschaftlich-funktionalen Logik, weil wir nun anfangen, alles auf seinen Marktwert hin zu reduzieren und damit unter einer funktional-berechnenden Brille zu betrachten. Überhaupt gehe ich davon aus, dass alle beschriebenen Phänomene dem naturwissenschaftlich-technischen Fortschritt zugeordnet werden können, der diese ermöglicht und zugleich geprägt hat. Wir fangen im 19. Jahrhundert an, an den naturwissenschaftlich-technischen Fortschritt zu glauben. Damit wird der Wandel zur zentralen Kategorie sowohl unserer Erfahrungen als auch unseres Denkens.
Dazu verhält sich nun die Bohème, insofern sie eines der in dieser Zeit geprägten Milieus darstellt. Die vier Protagonisten, die ihm entstammen, sind mit Rodolfo ein Dichter, mit Marcello ein Maler, mit Schaunard ein Musiker und mit Colline ein Philosoph, allesamt mittellose Intellektuelle und Künstler. Sie grenzen sich bewusst vom aufstrebenden Mainstream ab, nämlich dem Bürgertum.
Sie zählen also zu einer Gegenbewegung, die sich den oben genannten Phänomenen eher entgegenstellt. Von Fortschritt ist daher wenig zu spüren. Zugleich sind sie Genussmenschen, sie verweigern sich also weder noch treten sie explizit sozialkritisch auf. Während der Autor Henri Murger ein negatives, kritisches Bild zeichnet und etwa von der beständigen Jagd nach dem Geld spricht, vermeidet Puccini jede sozialkritische Zuspitzung. Ihm geht es eher um das individuelle Schicksal. Man kann also in beiden Stücken die zunehmende Individualisierung finden, die von der Marktlogik eingezwängt ist. Eine Problemlage, die wir heute genau so kennen: Spätestens hier wird deutlich, dass der Stoff eben doch Bedeutung besitzt, und zwar weit über das 19. Jahrhundert hinaus bis in unsere heutigen Tage.
Auch der Tod der Näherin Mimì im letzten Bild zeigt, dass es Puccini nicht um Sozialkritik geht: sie stirbt passiv. Wir verlassen die Oper also nicht aufgewühlt von der Beschreibung sozial unfairer Strukturen, sondern um das Individuum und sein ungerechtes Schicksal trauernd. Die Botschaft der Oper lautet also, dass wir im Großen keine Freiheit besitzen, sondern von den Umständen determiniert sind – also eine naturwissenschaftlich geprägte Vorstellung. Damit lässt sich auch eine nihilistische Tendenz feststellen, es werden keine hehren moralischen Prinzipien vertreten. Die Bohème beantwortet die Frage nach dem unausweichlichen Wandel und gesellschaftlichen Fortschritt der Zeit mit dem Genussstreben der Protagonisten.
Das klingt einerseits nach einer flachen Botschaft, aber gerade deshalb fordert sie uns existenziell heraus. Immerhin geht es in der Oper um die großen Themen von Liebe und Tod. Das sind die Grenzerfahrungen des Menschen schlechthin, die sich einer technischen Verfügbarkeit entziehen und damit zwangsläufig Sinnantworten herausfordern, die über das technisch-naturwissenschaftliche Paradigma hinausgehen. Wenn diese Grenzerfahrungen nun zugleich mit der Alldominanz des Geldes und damit der verrechnenden Marktlogik kontrastiert werden, wird die große Spannung der Moderne erzeugt. Wir alle sind in dieser gefangen und müssen darin unsere eigene Antwort suchen. Die Antwort der Protagonisten, beständig nach Geld und Genuss zu jagen, dürfte uns nicht fremd sein. Daher stellt La Bohème sehr eindrücklich eine der großen Fragen unserer Zeit – und kann mitnichten als kitschig und bedeutungslos abgetan werden.
Patrick Becker ist Professor für Fundamentaltheologie und Religionswissenschaft an unserer Fakultät. Mehr Informationen zu seiner Forschung finden Sie auf der Seite der Professur.