"Man wird sich über die institutionelle Gestalt der Theologie verstärkt Gedanken machen müssen"

Personalia
Prof. Dr. Benedikt Kranemann

“Das Verhältnis zur Kirche, das für die Theologie immer präsent ist, wird sich weiter verändern”, prophezeit Prof. Dr. Benedikt Kranemann. Sie solle durchaus kirchenbezogen arbeiten, sich dadurch aber nicht konfessionell einengen lassen. THEOLOGIE AKTUELL sprach mit dem Liturgiewissenschaftler, der am 13. Dezember 2019 seinen 60. Geburtstag feierte, über die Entwicklung der Theologie in den vergangenen 40 Jahren sowie über anstehende Herausforderungen. Zu einem Festakt anlässlich des Geburtstages von Prof. Kranemann laden die Mitarbeiter*innen der Professur für Liturgiewissenschaft an der Universität Erfurt am 17. Januar ein.

Prof. Kranemann, ein runder Geburtstag lädt stets auch dazu ein, Rückschau zu halten. Wenn Sie also einen Blick zurückwerfen auf Ihre eigenen „Anfänge“: Was hat Sie seinerzeit dazu motiviert, Theologe zu werden?
Ich gehöre noch zu denen, die auf ganz “klassischem” Weg zur Theologie gekommen sind: über die familiäre Sozialisation, die kirchliche Jugendarbeit, den Religionsunterricht. Wobei es für mich lange nicht klar war, dass ich mich in der Theologie spezialisieren würde. Literaturwissenschaft hat mich immer interessiert, auch Geschichtswissenschaft. Zuletzt sind es dann neben den Themen die akademischen Lehrer in Münster gewesen, die mich für die Theologie begeistert haben: vor allem Klemens Richter, Arnold Angenendt, Erich Zenger. Da habe ich wirklich “Feuer gefangen”.

Gab es jemals andere Berufsziele für Sie?
In der Schulzeit ja, natürlich – und das änderte sich auch häufig. Noch als ich das Studium begonnen habe, hatte ich eher verschwommene Berufsziele. Aber für mich war bald klar, dass mir das wissenschaftliche Arbeiten mit Themenentwicklung, Quellensuche, Lektüre, Schreiben – also all das, was zur Forschung dazugehört – besonders viel gab und mich wirklich begeisterte. Das Arbeiten an und in der Universität halte ich bis heute für ein besonderes Privileg:  sich wirklich ganz auf selbst gewählte Themen einlassen, ihnen nachgehen zu können, Gedanken dazu frei äußern, auch immer wieder revidieren zu können, um nach Neuem Ausschau zu halten – einfach großartig. Das möchte ich nicht missen!

Sie haben in den 80er Jahren katholische Theologie, Germanistik und Philosophie an der Westfälischen-Wilhelms-Universität Münster studiert. Hat sich die Theologie, die Sie heute lehren im Vergleich zu der, die sie selbst noch studiert haben, verändert? Falls ja: Inwiefern?
Da hat sich immens viel verändert. Wenn ich das kurz sagen darf: Schon bei den Arbeitsformen. Wenn man Bücher ausleihen wollte, stand man vor meterlangen Karteikästen in der Unibibliothek und ­­– das war schon ein Höchstmaß an Technik – trug auf kleinen Kärtchen, die später ein Rechner auswertete, mit Bleistift die Signaturen ein. Heute unvorstellbar, wenn ich an unsere hochtechnisierte Bibliothek denke. Computer, heute in jedem Rucksack auf dem Campus vorhanden, kamen für mich als PC erstmals zur Examenszeit zum Einsatz, und das waren Geräte, an die würde sich heute niemand mehr setzen wollen. Auch das Verhältnis zwischen Lehrenden und Lernenden hat sich in den vergangenen Jahrzehnten deutlich verändert. Ich erlebe das mehr als Zusammenarbeit denn als Hierarchie. Das sah zum Teil in den 80er Jahren noch anders aus.

… und die Studieninhalte?
Da hat sich eine Menge getan. Das hängt mit innerwissenschaftlichen Logiken zusammen. Themen wechseln, Methoden entwickeln sich, das gesellschaftliche Umfeld von Wissenschaft verändert sich. Um es an meinem Fach, der Liturgiewissenschaft, deutlich zu machen: 1965 endet das Zweite Vatikanische Konzil, in den folgenden Jahren läuft der große Prozess der Reform des katholischen Gottesdienstes – und die Liturgiewissenschaft dieser Zeit ist sehr stark  mit der Reflexion dieses Prozesses beschäftigt gewesen. Heute leben wir in einer ganz anderen Situation von Kirche, in der sich andere Aufgaben als in der Nachkonzilszeit stellen. Die Theologie hat gegenwärtig meines Erachtens andere und vielleicht sogar weitreichendere Erwartungen zu erfüllen: gegenüber anderen nichttheologischen Wissenschaften, aber auch inmitten einer Gesellschaft, für die das Christentum – um es vorsichtig zu sagen – seine Selbstverständlichkeit ein gutes Stück verloren hat. Auch die Pluralität der christlichen Kirchen mit ihrer Geschichte und vielfältigen gottesdienstlichen Formen und Entwicklungen stellt die Liturgiewissenschaft mitten hinein in einen lebendigen Austausch. Die Theologie selbst, und ich rede wieder von meinem Fach, ist ebenfalls vielfältiger geworden. Das macht wissenschaftliche Diskussionen interessanter, aber auch nicht immer einfacher.

"Theologinnen und Theologen werden stärker darüber nachdenken müssen, was sie als ihr Eigenes in die Forschung einer Universität einbringen können."

– Benedikt Kranemann

Prof. Dr. Benedikt Kranemann
Prof. Dr. Benedikt Kranemann

Vom Studium trennen Sie mittlerweile nicht nur vier Jahrzehnte und eine wissenschaftliche Karriere, sondern auch die räumliche und – insbesondere im Hinblick auf die volkskirchliche Situation – gesellschaftliche Distanz zwischen Münster und Erfurt. Was ist für Sie das Besondere an der „Erfurter Theologie“?
Ich bin ja von Trier und vom Deutschen Liturgischen Institut nach Erfurt gewechselt, ein wenig naiv, das gebe ich gerne zu, weil ich mir dann doch zu wenig klargemacht hatte, auf welche kirchlich-gesellschaftliche Situation ich hier treffen würde. Ich habe dieses stark säkularisierte Umfeld – ein schwieriger Begriff – schnell schätzen gelernt und habe das auch nicht tauschen wollen. Über so etwas kirchlich Internes wie Gottesdienst in einer Umgebung zu forschen, in der genau diese Riten vielen fremd sind, und sich dadurch, in welcher Form auch immer, jeweils neu befragen und infrage stellen zu lassen – da wird es intellektuell-wissenschaftlich nicht langweilig. Welche Fragen lohnen wirklich, was ist theologisch angesagt, wie drückt man das sprachlich aus? Ich bin mir heute sicher, dass viele Themen, die meine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und mich mittlerweile seit Jahren umtreiben, gerade in diesem Kontext der Diaspora entstanden sind und immer neu entstehen. Und diesen Kontext erfahre ich in wissenschaftlicher Perspektive bis heute nicht als eine Mangelsituation, sondern in einem wirklich guten Sinne als eine Herausforderung!

Wenn Sie auf Ihren wissenschaftlichen Werdegang und die zahlreichen Momente und Begegnungen, die damit verbunden sind, zurückblicken – gibt es da spezielle Ereignisse an die Sie besonders gern zurückdenken? 
Ja, da gibt es einige: Nie werde ich den Nachmittag meiner Habilitation vergessen – allein mit allen Professoren der Münsteraner Fakultät, und das war Anfang der 1990er Jahre eine sehr große Gruppe, um vor ihnen zu sprechen und mit ihnen durchaus kontrovers zu diskutieren. Die ersten Jahre in Erfurt waren „speziell“ – eine für mich ungewohnte Welt am Domberg, eine sehr gute Bibliothek, für westdeutsche Verhältnisse recht einfache Arbeitsbedingungen, eine großartige Aufbruchsstimmung an der kirchlichen Hochschule und seinem Kollegium, das in Gestalt einer staatlichen Fakultät Teil der neu gegründeten Erfurter Universität werden wollte. Und die Integration in die Universität, die 2003 vollzogen wurde, war schon sehr bewegend. Die ersten Doktoranden, die Gründung des Theologischen Forschungskollegs, die vielfältigen internationalen Kontakte – wichtige Ereignisse. Und ich denke auch gerne an die Aufgaben in der akademischen Selbstverwaltung, die Zeit kosten, aber auch Möglichkeit zur Gestaltung geben – nach wie vor. Die Arbeit an der Universität ist ja ungemein vielgestaltig, auch ein Privileg.

Welche Herausforderung für die Theologie sehen Sie in den nächsten Jahren?
Die Wege, auf denen Interessierte zur Theologie finden, aber auch die Motive, sich mit theologischer Wissenschaft auseinanderzusetzen, werden vielfältiger werden. Das heißt, dass man sich in der Lehre auf anders vorbereitete Studierende einstellen muss. Die Zahlen der Studienanfänger werden nach jetziger Einschätzung eher rückläufig sein. Dadurch werden wissenschaftliche Einrichtungen in Frage gestellt werden. Man wird sich über die institutionelle Gestalt der Theologie verstärkt Gedanken machen müssen. Auch das Verhältnis zur Kirche, das für die Theologie immer präsent ist, wird sich weiter verändern. Aber das sind eigentlich Veränderungsprozesse, die immer anstehen und auch in den vergangenen Jahrzehnten stattgefunden haben. Vor großen Herausforderungen stehen wir auch auf inhaltlicher Ebene: Mit einer sich verändernden Gesellschaft wie Wissenschaftslandschaft entstehen neue Themen und müssen tradierte neu durchdacht werden. Für mein Fach: Was bedeutet Liturgie, wer verantwortet sie, wie verändert sie sich, welche Rolle spielt die Begegnung tradierter Liturgie mit wechselnden Kulturen usw.? Welche Disziplinen der Theologie sind hier besonders gefordert? Und wo kommt die starke Binnendifferenzierung der Theologie in die Krise? Welche Bedeutung misst man noch der Konfessionalität der Theologie zu? Was ist Thema der Theologie, wenn die Gottesfrage in einer Gesellschaft immer stärker ins Abseits gerät? Theologinnen und Theologen werden stärker darüber nachdenken müssen, was sie als ihr Eigenes in die Forschung einer Universität einbringen können. Das gelingt in Forschungsverbünden gut, aber in der Breite der Theologie bleibt einiges zu tun. Vor zehn Jahren hat der Wissenschaftsrat das der Theologie in seinen „Empfehlungen zur Weiterentwicklung von Theologien und religionsbezogenen Wissenschaften an deutschen Hochschulen“ ins Aufgabenheft geschrieben. Die Theologie hat hier immer noch eine Bringschuld.

Wenn Sie einen Wunsch frei hätten, worin sich die Theologie in 60 Jahren von der heutigen unterscheiden sollte – was würden Sie sich wünschen?
Das ist schwer zu beantworten. Was hätte man 1960 mit Blick auf 2020 gesagt? Da war nicht einmal klar, was das Konzil für Theologie und Kirche bringen würde, von den großen gesellschaftlichen und kulturellen Veränderungen ganz abgesehen. Ich kann nur sehr allgemein Wünsche äußern. Die Theologie ist ja diese besondere Vernetzung von  Wissenschaft, Gesellschaft und Kirche eigen. Sie muss sehr unterschiedliche Bühnen bespielen und das sollte sie auch auf Zukunft hin versuchen. Sie muss sich natürlich weiterhin als wissenschaftliche Disziplin profilieren. Vermutlich gibt es kaum eine Disziplin, die die eigentliche Wissenschaftlichkeit aufgrund vieler Anfragen immer wieder so durcharbeitet wie gerade die Theologie. Sie sollte durchaus kirchenbezogen oder auf religiöse Praxis bezogen arbeiten, sollte sich aber dadurch nicht konfessionell oder wie auch immer einengen lassen und Souveränität zeigen. Und ich würde mir wünschen, dass die Kommunikation der Theologie hinein in die Gesellschaft, so säkular sie sein mag, besser gelingt. Es sind so spannende Themen, die in der Theologie verhandelt werden, es geht um Kultur- und Religionsgeschichte, um ethische Fragen, im engeren Sinne Fragen von Glaube und Existenz – es ist schade, dass vieles davon zu wenig über die Theologie hinaus bekannt wird. Auf diesem Feld haben auch andere Geistes- und Kulturwissenschaften ihre Defizite. Aber gerade die Theologie sollte von dem erzählen, was sie umtreibt und womit sie sich beschäftigt – es ist viel zu interessant, um es nur für sich zu behalten.

Über Benedikt Kranemann

Prof. Dr. Benedikt Kranemann ist Professor für Liturgiewissenschaft an der Katholisch-Theologischen Fakultät sowie Vizepräsident für Forschung und wissenschaftlichen Nachwuchs an der Universität Erfurt. Seine Publikationen beschäftigen sich vor allem mit der Geschichte und Theologie des Gottesdienstes. Er ist weiterhin Leiter des Theologischen Forschungskollegs an der Universität Erfurt sowie Berater verschiedener Kommissionen der Deutschen Bischofskonferenz.

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Festakt zum 60. Geburtstag von Prof. Dr. Benedikt Kranemann

Anlässlich des 60. Geburtstages von Prof. Dr. Benedikt Kranemann laden die wissenschaftlichen Mitarbeiter*innen der Professur für Liturgiewissenschaft an der Universität Erfurt am 17. Januar ab 19 Uhr zu einem fakultätsöffentlichen Festakt ins Auditorium Coelicum, Domstraße 10 in Erfurt, ein. In einem Festvortrag wird Prof. Dr. Thomas Sternberg, Präsident des Zentralkomitees der deutschen Katholiken, „Über die Sichtbarkeit der Kirche. Anmerkungen zu einigen Elementen der Liturgie“ sprechen.