„Mehr Sichtbarkeit in der Einheit“ – auch am Sonntag

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Nahaufnahme von Kirchenbänken
Prof. Dr. Benedikt Kranemann
Prof. Dr. Benedikt Kranemann

Dass die beiden großen Kirchen in Deutschland derzeit immense Probleme haben, ist wirklich keine neue Nachricht. Neu und interessanter sind Überlegungen, wie, und wenn es nur im Kleinen ist, die Glaubensgemeinschaften neue Handlungsspielräume und Perspektiven gewinnen können. Beispielsweise für den Gottesdienst, bei dem sich die Zahl derer, die sich zur Feier im kirchlichen Rahmen versammeln, mittlerweile auch in der katholischen Kirche auf einem Tiefststand bewegt – im Börsensprech: ein Allzeittief. Geht hier vielleicht ökumenisch etwas? Lassen sich Kräfte bündeln, Kompetenzen zusammenführen, kann mehr Dynamik aus geteilter Tradition gewonnen werden?

Ein Dokument, das die Evangelische Kirche in Deutschland und die Deutsche Bischofskonferenz Mitte März 2024 gemeinsam veröffentlicht haben, setzt neue Akzente für die Ökumene. Der Titel ist Programm: „Mehr Sichtbarkeit in der Einheit und mehr Versöhnung in der Verschiedenheit“. Der Untertitel zeigt, in welcher Richtung es mit der Ökumene weitergehen könnte, wenn von den „Chancen einer prozessorientierten Ökumene“ die Rede ist. Vor allem sind in aller innerkirchlichen Depression Ermutigung und auch ein gutes Stück Aufbruch zu verspüren, wenn gefordert wird, „die gewachsenen Beziehungen zwischen katholischen und evangelischen Gemeinden mit Mut und Zuversicht weiterzuentwickeln.“ (Nr. 2, S. 10) Soziales, politisches und kulturelles Engagement darf die Gesellschaft, so heißt es mit Recht, „von den Kirchen erwarten“. Doch berechtigte Hoffnungen gibt es ebenso unter Christinnen und Christen, dass sie in ihrem ökumenischen Engagement Unterstützung finden. Explizit werden Gebet und Gottesdienst genannt. „Wir sagen einander zu, Kirche nicht für uns allein, sondern nur im Dialog miteinander sein zu wollen.“ (Nr. 4, S. 11) – ein markanter Satz, eine Selbstverpflichtung, an der man die Kirchen zukünftig messen wird, übrigens auch mit Blick auf die Liturgie.

Martyria, Diakonia und Leitourgia, also die Grundvollzüge von Kirche, werden im Dokument beleuchtet. Es wird deutlich, wie viel ökumenische Aktivitäten bis in Kernbereiche der Kirchen es bereits gibt. Das Fundament solcher Gottesdienste, auf dem alle christlichen Konfessionen stehen und das die Ökumene im Gottesdienst ermöglicht, ist der „Glauben an die Gegenwart Jesu Christi“ (Nr. 23, S. 30). Die herausragende Bedeutung gemeinsamer Gottesdienste für die Ökumene wird unterstrichen: „In der gemeinsamen Feier des Gottesdienstes wird – situativ und partiell, aber real – Gottesdienstgemeinschaft erlebt.“ (Nr. 27, S. 43) Heute lässt sich nicht mehr übersehen, dass die ökumenische Verbundenheit längst sogar in der sakramentalen Liturgie wächst, wie insbesondere die Taufliturgie zeigt – und sogar Abendmahl/Eucharistie zeigen könnten, wenn das ÖAK-Votum „Gemeinsam am Tisch des Herrn“ endlich praktische Konsequenzen nach sich zöge.

Doch eine weitere Aufgabe für die Ökumene, und dies nicht nur in der Diaspora, könnte sich bald schon auftun, nämlich in der Sonntagsliturgie. Die Feier des Gottesdienstes am Sonntag ist nicht nur nach dem Selbstverständnis der katholischen Kirche etwas Zentrales. Sich vor Ort mit anderen Gläubigen versammeln zu können, um Gott zu loben und zu preisen, aber auch die eigenen Fragen und Bitten vor ihn zu bringen, auf die Texte der Schrift zu hören, gemeinsam zu beten und um den Segen Gottes zu bitten – all dies ist von basaler Bedeutung für das Christsein der Einzelnen wie der Gemeinschaft vor Ort, wie immer sich das in der Praxis darstellt. Die Liturgie verbindet den Sonntag mit den ersten Zeugnissen von der Begegnung der frühen Gemeinde mit dem Auferstandenen. Evangelischerseits würden manche von einem traditionskontinuierlichen Geschehen sprechen.

Versammlungen von Christ:innen am Sonntag besitzen eine besondere symbolisch-performative Qualität und sind ein ekklesiogenes Geschehen: Hier wird und ist immer neu Kirche. Sie sind ein geistliches Geschehen, weil sich die Versammelten als von Christus gerufen verstehen und ein ums andere Mal Menschen neu in das Christusgeschehen hineingezogen werden. Sie haben soziale wie theologische Bedeutung, weil sie Gemeinschaft zur Erfahrung bringen, die sich als Versammlung um den Auferstandenen und mit ihm versteht.

Bei allen Um- und Neustrukturierungsprozessen in der Kirche muss dieses Gewicht sonntäglicher Liturgie zwingend berücksichtigt werden, was leider keine Selbstverständlichkeit ist. Andernfalls entfällt eine wesentliche Dimension von christlichem Leben, verschwindet Liturgie mit einem ihrer zentralen Rituale aus dem Lebensumfeld von Menschen und verliert Kirche mit einer Kernaufgabe die Präsenz vor Ort. Wo das geschieht, sind die Konsequenzen für die Gläubigen wie die Institution jetzt schon bitter.

Nun ist in den vergangenen Jahrzehnten die Zahl der katholischen Priester dramatisch zurückgegangen. Es fehlen immer mehr Vorsteher der Eucharistiefeiern. Die Zahl der Menschen, die sich vor Ort zur Liturgie versammeln, ist ebenfalls rückläufig. Die Statistik der Deutschen Bischofskonferenz wies für das Jahr 2021 eine Teilnahme am sonntäglichen Gottesdienst von 4,3 % der Katholikinnen und Katholiken aus, 2022 lag sie leicht höher bei 5,7 %. In manchen Gegenden Deutschlands treffen sich heute schon Kleinstgruppen zur Sonntagsliturgie. Kirche als tragende Größe wird so immer weniger erlebt. Das Aufrechterhalten der regelmäßigen Sonntagsliturgie, von Sonntagsmessenicht zu reden, wird schwieriger.

„Chancen einer prozessorientierten Ökumene“: Wäre in einer solchen Situation, zumindest in der Diaspora und bei Bedarf, die ökumenische Feier von Wortgottesdiensten auch am Sonntag nicht ein sinnvoller Weg? Das eben genannte Dokument gibt die Zusage, „in unseren Gottesdiensten unsere ökumenische Verbundenheit klarer zum Ausdruck zu bringen“ (Nr. 14, S. 59). Hier liegt nicht nur eine Chance, hier ist Bedarf oder wird es zukünftig wirklichen Bedarf geben. Die Verkündigung des Wortes Gottes ist theologisch grundlegend für den evangelischen wie katholischen Gottesdienst. Wenn man Thesen evangelischer und katholischer Theologinnen und Theologen aus jüngerer Zeit zur Theologie des Wortes in der Liturgie liest, ist die Übereinstimmung in den wesentlichen theologischen Fragen nicht zu übersehen. Aus theologischer Sicht muss man dem ökumenischen Dokument zustimmen, für das „das biblische Zeugnis des Wortes Gottes ein Grund [ist], in jeder Zeit die Einheit der Kirche, die Gott vorgegeben hat, neu zu entdecken“. (Nr. 11, S. 25) Das kann und soll auch im Gottesdienst geschehen. Die im Grundsätzlichen geteilte Theologie des Wortes Gottes bietet dafür eine exzellente und tragfähige Grundlage.

Zugleich haben, wenn der Eindruck nicht täuscht, alle Konfessionen hier noch Aufgaben zu erledigen. Mal wird beklagt, das Gewicht des Wortes Gottes, Theologie wie Spiritualität seiner Verkündigung, seien in der Kirche kaum bewusst. Dann wieder ist zu hören, es fehle eine überzeugende Form der „Inszenierung“ des Wortes. Homilisierung und Katechetisierung von Wortgottesdiensten werden kritisiert. Immer neu flammt die Diskussion auf, wie mit dem Alten und Ersten Testament sinnvoll umzugehen sei. Und ob Wortgottesdienst, Wort-Gottes-Feier, Tagzeitenliturgie usw. gefeiert werden sollen – auf jeden Fall gibt es viele Weisen der Wortliturgie, die im ökumenischen Miteinander zu besprechen und vor allem zu feiern wären. Das Ziel: am Sonntag zusammen den gemeinsamen christlichen Glauben zu bekennen und zu feiern. Möglich würde mehr Miteinander der Konfessionen, das Miterleben der unterschiedlichen Weisen, Gott im Wort zu feiern, die Suche nach einer gemeinsamen und überzeugenden ökumenischen Form von Wortgottesdienst.

Vor Ort wäre die Initiative zu ergreifen und zu entscheiden, ob Wortgottesdienst als ökumenischer Sonntagsgottesdienst gewollt ist – Schritt für Schritt, ein prozessorientiertes Vorgehen eben. Solche regionalen Initiativen müssten eine Förderung und Unterstützung der Kirchen in ökumenischer Verbundenheit erfahren, wie es andernorts für Start-ups in der Gesellschaft üblich ist. Hier scheint, mindestens mal für Diasporaverhältnisse, eine Option zu liegen. Christsein vor Ort würde gestärkt und bliebe sichtbar. Die Bedeutung des Wortes Gottes könnte gemeinsam ökumenisch neu entdeckt oder vertieft werden. Gegenwärtiges gottesdienstliches Leben der anderen Konfession, aber auch deren Tradition könnten entdeckt werden. Und der Sonntag würde durch mehr Vitalität in der Liturgie und mehr ökumenisches Miteinander neue Qualität erhalten.

Deutsche Bischofskonferenz – Evangelische Kirche in Deutschland, Mehr Sichtbarkeit in der Einheit und mehr Versöhnung in der Verschiedenheit. Zu den Chancen einer prozessorientierten Ökumene. Bonn – Hannover 2024 (Gemeinsame Texte 30)

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