Pastoral, Theologie und Kirche in Zeiten der Pandemie. Ein europäischer Vergleich.

Forschung & Wissenschaft
Welt mit Maske

Pastoral, Theologie und Kirche in Zeiten der Pandemie. Ein europäischer Vergleich.

Die Corona-Pandemie treibt nicht nur Medizin und Wirtschaft, Bildung und Sozialwesen um, sondern ist auch ein Thema der Theologie und der kirchlichen Praxis. Das gilt ganz grundsätzlich: Eine solche Pandemie mit einem unermesslichen Leid und einer Vielzahl von Toten wirft zwangsläufig die Gottesfrage auf. Dem kann sich die Theologie nicht entziehen, in der es zentral um die Frage nach Gott und das Verständnis des Menschen geht. Sie muss zugleich reflektieren, wie die Kirche(n) und ihre Einrichtungen in einer solchen Pandemie reagieren, welche Ressourcen sie einbringen können, um mit Krankheit und Tod umzugehen, wie sie Seelsorge und Caritas betreiben und ihre Kommunikationsformen und ihre gottesdienstlichen Angebote entsprechend modifizieren. Und sie muss sich der Herausforderung stellen, was Aufgabe der Kirche, aber auch ihre eigene Aufgabe inmitten einer solchen Pandemie ist. Die Theologie wird zu einem think tank, in dem über Formen und Inhalte kirchlicher Existenz inmitten der Katastrophe nachgedacht werden muss. Mit kritischen Analysen und Fragen trägt sie ihren Teil bei, in der Pandemie nicht handlungsunfähig zu werden, sondern Perspektiven zu entwickeln, die für Gesellschaft und Kirche neue Handlungsoptionen eröffnen.

Den damit einhergehenden Herausforderungen wendet sich ein internationales Projekt zu, das die Professuren für Dogmatik (Prof. Dr. Julia Knop) und für Liturgiewissenschaft (Prof. Dr. Benedikt Kranemann) der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Erfurt in mehreren Workshops digital durchführen: „Pastoral, Theologie und Kirche in Zeiten der Pandemie. Ein europäischer Vergleich.“ Beteiligt sind Kolleginnen und Kollegen verschiedener theologischer Fachrichtungen: aus der Liturgiewissenschaft und Pastoraltheologie, der Ethik und Sozialethik, der Dogmatik und Fundamentaltheologie. Zu einigen bestehen bereits langjährige Kooperationen, andere Kontakte wurden neu aufgebaut. Insgesamt sind bisher neun Länder beteiligt: Deutschland, Österreich und die Schweiz, die Niederlande und (französisch) Belgien, Polen, die Tschechische Republik, Slowenien und Kroatien. Das Projekt ist bewusst international angelegt, um die wissenschaftliche Perspektive zu weiten und durch vergleichende Analysen kirchliches Handeln in ganzer Breite in den Blick zu bekommen. Was ist im einzelnen Land besonders, welche Praxis, welche Herausforderungen verbinden die Ortskirchen? Welche Probleme lassen sich regional beschreiben, wie sehen Lösungsansätze aus? Wie handelt Kirche in einer solchen Situation? Eine allein „nationale“ Perspektive greift hier zu kurz.

In allen Ländern hat die Pandemie erhebliche Umstellungen religiöser Praxis nötig gemacht und nicht minder erhebliche Fragen an die theoretischen und praktischen Sinnressourcen der Kirchen, ihre Sprach- und Handlungsfähigkeit gestellt. Denn aufgrund alarmierender Infektionszahlen und entsprechender staatlich verordneter Schutzmaßnahmen kam das soziale Leben der Kirchen vielfach zum Erliegen und musste adhoc umgestellt werden. Wie in vielen anderen Lebensbereichen auch mussten digitale Kompetenzen neu auf- bzw. ausgebaut werden. Aber es stellen sich nicht nur technische Fragen. Zwischenmenschliche Kontakte, wie sie in der Caritas und in der Seelsorge elementar sind, lassen sich nicht 1 : 1 ins Digitale übersetzen. Gottesdienste leben von der Versammlung und Partizipation der Gläubigen, von einer Vielfalt von Rollen, von sinnlich erfahrbaren Momenten. Das ist nicht ohne Weiteres, nicht ohne intensive Vergewisserung über Inhalte und Formen, in den virtuellen Raum zu überführen. Solche Vergewisserung wiederum stellt besondere Anforderungen an die religiöse und theologische Kompetenz und Kommunikationsfähigkeit der Beteiligten. In der Ausnahmesituation wurde manchem neu deutlich, was lange Zeit zwar Gewohnheit, aber kaum mehr Bedürfnis war, so dass es nicht fehlt, wenn es pandemiebedingt ausfallen muss. Es zeigt sich deutlicher, welche personellen, spirituellen, reflexiven und durchaus auch wirtschaftlichen Ressourcen da sind und welche nötig wären, um mit der für alle neuen und herausfordernden Situation gut umzugehen. Tragen etablierte Glaubens- und Gebetsformen auch über diese Krise? Oder geht das Covid-19-Virus auch an die religiöse Substanz? Wie sehr sind religiöse Überzeugungen und religiöse Symbolik an bestimmte Formen gebunden – und lassen sie sich auch in neue, pandemiekonforme Gestalten überführen? Wie kreativ sind Christinnen und Christen in Gedanken, Worten und Werken, um aus der Kraft ihrer Religion heraus die Situation zu bewältigen? Wie geht man in Pastoral, Liturgie, Theologie mit der Pandemie um? Wie reagieren die Kirchenleitungen? Welches Reflexionspotenzial bieten die Theologien?

In der Pandemie zeigt sich, dass mit digitalen Formaten in der Pastoral und insbesondere der Liturgie auch neue Fragen auf die Kirche zukommen. Mit großer Kreativität werden unterschiedlich zugeschnittene Gottesdienste entwickelt, die zum Teil weit über „Kerngemeinden“ hinaus auf Interesse stoßen. Priester wie „Laien“ wagen Neues und bedienen sich dafür in kreativer Form des Internets. Was das langfristig für die Liturgie heißt, bleibt abzuwarten. Aber schon jetzt zeigt sich, dass es größere Vielfalt gibt und freimütiger mit Normen für die Liturgie umgegangen wird, gleichzeitig vieles theologisch intensiv diskutiert wird. Die Kirche wird in ihrem Kernbereich digitaler. Das hat Konsequenzen für den Gottesdienst bis in die Inhalte hinein.

Wie sieht das in verschiedenen Ortskirchen aus? In einem ersten digitalen Workshop wurden länderspezifische Herausforderungen und religiöse Coping-Strategien vorgestellt und diskutiert. Dabei trat ein differenziertes Bild zutage, das kirchliche und kulturell-gesellschaftliche Besonderheiten, aber auch länderübergreifende Gemeinsamkeiten widerspiegelt. V.a. in osteuropäischen Ländern, in denen kirchliches Leben stark vom ehrenamtlichen und wirtschaftlichen Engagement der Gläubigen abhängt, sind erhebliche Einbrüche auf dem Feld der religiösen Bildung und der Finanzierung der Pastoral zu verzeichnen. Eigeninitiative religiöse Praxis zuhause oder im kleinen Kreis vermag hingegen den Ausfall regulärer Gottesdienste einigermaßen gut zu kompensieren. Dass Priester ohne oder nur mit wenigen oder „stellvertretend“ für die Gläubigen Liturgie feiern, wird mancherorts goutiert und per Videostream gern rezipiert. In anderen Ländern wird dieselbe Praxis theologisch hingegen scharf kritisiert. An diesem Beispiel zeigen sich diverse regionale und milieuspezifische Ungleichzeitigkeiten im Liturgieverständnis und -bedürfnis, die in der Pandemie sichtbar werden.

Die nötigen Umstellungen werden teils kreativ gestaltet und als Chance einer Revision überkommener Formen begrüßt, teils aber auch als reine Ausnahmelösung toleriert in der Hoffnung, „nach“ Corona möglichst umgehend wieder zum Stand von „vor“ Corona zurückkehren zu können. In ohnehin bereits stark säkularisierten Regionen Europas scheint die Pandemie die Entkirchlichung des christlichen Glaubens weiter zu beschleunigen. Kirchliche und spirituelle Üblichkeiten (M. Sellmann) tragen nicht mehr und werden teils ganz gekappt. Interessante länderspezifische Differenzen zeigen sich bzgl. gemeindlicher, kommunaler bzw. regionaler oder konfessionsübergreifender Kooperationen in Liturgie und Caritas. Als sensibles und zugleich interessantes Beobachtungsfeld erweist sich die Frage danach, wer als sprach- und handlungsfähig erlebt und aktiv wird. Neue gottesdienstliche oder andere spirituelle Formate werden ausprobiert. Ideenpools mit Anregungen für Spiritualität und Gottesdienst werden im Internet entwickelt. Die Politisierung religiöser Sprache, Praxis und Sinngebung während der Pandemie ist vielerorts ein Problem, etwa wenn – gerade gut sichtbar an den Debatten um die Weihnachtsgottesdienste – die Freiheit der Religionsausübung in Konkurrenz zur Sorge für das Gemeinwohl gestellt wird und das Seelenheil gegen körperliche Gesundheit ausgespielt wird, Verschwörungstheorien und Populismen Einzug in die Gemeinden nehmen oder der Vorwurf erhoben wird, die pandemiebedingten Umstellungen für ganz andere Zwecke zu instrumentalisieren – sei es zugunsten einer Rückkehr zu vergangenen religiösen Praktiken, sei es zugunsten etwaiger kirchlicher Reformen.

Immer wieder begegnet man der Debatte um „Systemrelevanz“ von Kirche, die ganz unterschiedlich bestimmt wird und in der sehr unterschiedliche Akzente gesetzt werden. Die einen befürchten, dass die Kirche innerhalb der Gesellschaft nicht mehr wahrgenommen und ihre Rechte beschnitten werden. Das macht sich u. a. an der Diskussion fest, ob in der Pandemie etwa zu Weihnachten Gottesdienste auch während Ausgangssperren gefeiert werden können. Die anderen fragen, was überhaupt Systemrelevanz in spezifisch kirchlicher Perspektive heißt und ob nicht nach einer spezifischen Relevanz der Kirche in der Gesellschaft zu suchen ist. Mancher vertritt die These, der Verlust von Systemrelevanz sei letztlich ein Gewinn, weil man als Kirche so weniger funktional denken und kompromissloser agieren könne. Doch der Verlust religiöser Sprachfähigkeit über die eigene Klientel hinaus und der Weg in die zivilgesellschaftliche Bedeutungslosigkeit dürfte nirgendwo ein erstrebenswertes Gut sein. In manchen Ländern Europas verbindet sich mit diesem Verlust für die jeweilige Ortskirche auch die Gefahr des wirtschaftlichen Ruins.

Neben der Präsentation und Zusammenführung dieser verschiedenen europäischen Perspektiven und der Reflexion der entsprechenden Transformationsprozesse von Kirche und Gesellschaft sollen weitere Forschungsfelder erschlossen werden. Das Projekt ist international angelegt, um Erfahrungen und Reflexionsansätze aus verschiedenen Ländern Europas zusammenzubringen, Synergieeffekte zu nutzen und auch die Internationalisierung der Theologie in einer Zeit zu fördern, die mehr als nur nationale Antworten auch in der Theologie verlangt. Die gemeinsame Arbeit, die digital stattfindet, soll in eine gemeinsame Publikation münden, die im kommenden Jahr in mehreren Schritten erarbeitet wird.

 

Nähere Informationen: benedikt.kranemann@uni-erfurt.deund  julia.knop@uni-erfurt.de

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