"Menschen sind mehr als ihre Lebensläufe"

Engagement , Off Campus , Vorgestellt
Laureen Hannig

"Ja, ich stamme aus einer Familie von Nichtakademikern. Und das ist an deutschen Hochschulen heute noch immer viel zu selten", sagt Laureen Hannig. Die 22-Jährige studiert seit 2019 an der Universität Erfurt "Internationale Beziehungen" und "Kommunikationswissenschaft". Und sie engagiert sich für junge Menschen, deren Eltern ebenfalls nicht studiert haben, die aber selbst gern eine akademische Laufbahn einschlagen wollen. In der Initiative "Arbeiterkind.de". "Ganz zu Beginn meines Engagements habe ich mir die Frage, ob ich meinen Hintergrund offen erwähne, selbst gestellt, aber es gibt doch keinen Grund, das zu verheimlichen. Genau so entstehen ja Vorurteile und Stigmata", sagt Laureen. "Ich bin stolz auf mich und meine Eltern und ich bin fest davon überzeugt, dass Menschen mehr sind als ihre Lebensläufe." Für unseren Campus-Blog haben wir mal genauer nachgefragt...

Was genau sind denn die Ziele von "Arbeiterkind.de" und mit welchen Maßnahmen sollen die erreicht werden?
Wir möchten als Gruppe einen Ort schaffen, an dem junge Leute aus Nichtakademikerfamilien mögliche Ängste bezüglich des Studiums oder der Uni an sich äußern können, und an denen sie ihre Unsicherheiten nicht hinter einem Pokerface verstecken müssen. Es geht darum, sich auszutauschen und sich mit den eigenen Fragen und Ängsten nicht alleine zu fühlen. Außerdem wollen wir mit den Erfahrungen, die wir selbst gemacht haben und mit den Hürden, die wir gemeistert haben, noch mehr Schüler*innen zum Studium ermutigen. Wir sind Ansprechpartner*innen für alle Fragen rund um Studienplatzbewerbungen, Studienfinanzierung, Stipendien und vieles mehr. Wir teilen dabei einfach und vor allem ganz ehrlich unsere Erfahrungen. Kommt zum Beispiel eine Anfrage an die Gruppe von einem Studienanfänger/einer Studienanfängerin, der/die sich für Stipendien interessiert, überlegen wir in der Gruppe: Wer hat selbst Erfahrungen auf diesem Gebiet gemacht? Wer kann diese Erfahrungen teilen? Wer hat Tipps?

Seit wann gibt es die Gruppe denn an der Uni Erfurt?
Ich persönlich bin der Gruppe im Herbst 2019 beigetreten. Da war sie gerade nach längerer Ruhephase in einer Neu-Formierung. Bei unseren Treffen sind wir im Schnitt fünf bis sieben Mitglieder, aber die Gruppe hat mehr Mitglieder, z.B. Leute, die aus familiären oder beruflichen Gründen aus Erfurt weggezogen sind, uns mit Erfahrungen aber trotzdem weiter zur Seite stehen. Zum Glück können wir uns seit diesem Semester auch wieder in Präsenz treffen und nicht nur am Bildschirm – jeden zweiten Donnerstag im Monat um 18.30 Uhr in der Kreativtankstelle nahe des Campus.

Ist das ein geschlossener Kreis oder können bei "Arbeiterkind.de" auch Leute mitmachen, die aus Akademiker-Familien stammen?
Die Gruppe steht allen offen! Unter den Engagierten der Gruppe sind hauptsächlich Studierende (und ehemalige Studierende) der "ersten Generation", aber eben nicht nur. Mitmachen können alle, die ihre Erfahrungen aus dem Studium teilen und mit ihrer Geschichte Mut machen möchten. Jede Erfahrung macht die Gruppe reicher und hilft Ratsuchenden. Auch unter den Studienanfänger*innen und Schüler*innen, die sich an uns wenden, sind nicht nur Studierende der ersten Generation. Fragen und Bedenken hat jeder, auch wenn der Großteil unseres Netzwerkes tatsächlich Erstakademiker*innen sind. Bei Letzteren häufen sich ja die Fragen und die Notwendigkeit, zusammenzukommen und sich auszutauschen. Und bei ihnen braucht es teilweise auch mehr Mut, diesen Schritt zu gehen.

Wie kamen Sie selbst zu "Arbeiterkind.de" und warum engagieren Sie sich persönlich in dieser Initiative?
Ich bin aus dem ländlichen Ostwestfalen nach Erfurt gezogen und war ziemlich schnell überwältigt von der Stadt. An der Uni wirkte alles so durchorganisiert und alle anderen Studierenden schienen schon einen genauen Plan zu haben. Das hat mich erstmal ein bisschen verunsichert – denn in meiner Familie gabs ja keine Erfahrungen mit dem Studium an sich. Ich war für mich noch dabei, herauszufinden, wie das Studium so ganz generell funktioniert, da wurden in meinen Kursen schon Gespräche über Ideen für anstehende Praktika geführt und wen man kennt, falls die Traumbewerbungen nicht klappen. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich selbst noch keine Ideen und war auch noch nicht so gut vernetzt, so dass ich Ansprechpartner*in für den Notfall gehabt hätte. Ganz ehrlich: Ich habe mich in den ersten Wochen oft einfach von den vielen neuen Eindrücken überrollt gefühlt. Die Initiative "Arbeiterkind.de" kannte ich aber schon vor meinem Umzug nach Erfurt. Zu Hause hatte ich damals an einer Konferenz zum Thema „Bildungschancen im ländlichen Raum“ mitgewirkt und dort die örtliche Gruppe von "Arbeiterkind.de" kennengelernt. Nach meinen ersten Wochen in Erfurt wollte ich dann einfach meine Erfahrungen teilen und auch hören, ob ich mit meinen Sorgen allein bin oder nicht. Und ich hatte einfach Lust auf Austausch "auf Augenhöhe". Seither bin ich dabei...

Was unterscheidet aus Ihrer Sicht „Kinder“ aus Nichtakademikerfamilien im Studium von Personen, deren Eltern selbst studiert haben?
Auf den ersten Blick nicht viel. Auch Studierende der "ersten Generation" können gute oder schlechte Noten haben. Auch sie können viele oder wenige Sprachen sprechen. Auch sie können sich sehr für ihr Studium begeistern oder zweifeln. Da sind „wir“ nicht anders als alle anderen Studierenden. Ich kann hier nicht für alle Erstakademiker*innen sprechen (deswegen lebt unsere Initiative davon, dass jeder/jede die eigene Bildungsgeschichte teilt), aber oft ist der Weg zum Studium weniger vorherbestimmt und selbstverständlich. Obwohl ich mich sehr für Politik, Medien und Gesellschaft interessiere, war für mich keineswegs von Anfang an klar, dass ich studiere. Auch für mein Umfeld nicht. Statistiken zeigen, dass Kinder aus Akademiker-Haushalten nach wie vor mit höherer Wahrscheinlichkeit ein Studium aufnehmen und das kann ja wohl kaum allein an ihren Interessen liegen.

Außerdem haben Erstakademiker meist weniger (familiäre) Kontakte in Berufsfelder, für die ein Studium nötig ist. Das heißt nicht, dass Studierende aus Akademiker-Familien alle gute Kontakte in die Akademikerwelt haben – z.B. wenn es um Praktika o.ä. geht –, aber die Wahrscheinlichkeit ist eben deutlich höher. Der Druck für "Erstakademiker" ist einfach oftmals höher und vielen macht das auch Angst.

Nun hat sich das Studium im Laufe der Zeit ja deutlich verändert – es ist heute ohnehin nicht mehr vergleichbar mit dem unserer Eltern. Und dennoch ist es bei Nichtakademikerfamilien noch einmal eine größere Hürde, würden Sie sagen?
Die Hürde ist nach wie vor da – leider. Dass eine wissenschaftliche Hausarbeit anders geschrieben wird als ein Text in der Schule, hat sich nämlich nicht verändert. Wie man wissenschaftlich arbeitet, hat sich ebenfalls kaum verändert und im eigenen familiären Umfeld zu sehen, wo ehemals Studierende arbeiten, macht einfach Mut für den eigenen Werdegang – auch das hat sich nicht verändert. Und natürlich sind da die offensichtlichen Ungerechtigkeiten: Akademiker*innen verdienen in der Regel mehr Geld. Das beeinflusst Familien- und Sozialstrukturen und erleichtert oder erschwert ein Studium und alles, was dazu gehört.

Was könnte die Politik Ihrer Ansicht nach tun, um die Lücke, die da klafft, zu füllen oder zumindest zu verkleinern?
Ganz konkret fallen mir da Praktika ein: Sie werden in vielen Bereichen verlangt – ob nun während des Studiums oder anschließend beim Einstieg in den Beruf. Aber meist ist das Gehalt so gering, dass man sich ohne entsprechenden finanziellen Background (z.B. durch die Familie) solch ein Praktikum gar nicht "leisten" kann.  Aber ohne erste Berufserfahrung (am besten im Ausland), die man in der Regel in Praktika sammelt, wird es schwierig, einen Job zu finden. Besonders während der Corona-Pandemie war und ist es schwierig, Praktikumsplätze zu finden und wenn, reicht das Gehalt kaum für den Umzug an den Praktikumsstandort. Hier sollten gerade öffentliche und staatliche Einrichtungen in die Pflicht genommen werden, gerecht Praktika zu vergeben. Das bedeutet für mich, dass genügend Plätze zur Verfügung stehen und Praktikant*innen nicht als „Last“ wahrgenommen werden. Und was auch deutlich werden muss: Praktikant*innen sind keine billigen Arbeitskräfte, sondern die Angestellten von Morgen. Auch hier sehe ich die Politik in der Pflicht, für eine gerechte Entlohnung zu sorgen.

Eine zweite Chance sehe ich konkret in der Berufsberatung in der Schule. Diese müsste individueller und umfassender sein, um Hürden abzubauen. Es genügt nicht, einmal im Jahr einen Vortrag von der Agentur für Arbeit zu hören. Was es braucht, sind kontinuierliche Gespräche, Beratungen und Besuche sowohl von Unternehmen als auch von Universitäten – als Pflichtprogramm und nicht ausschließlich auf Initiative einiger motivierter Lehrer*innen.

Wie könnte die Universität dazu beitragen, haben Sie dazu eine Idee?
Zum einen wünsche ich mir, dass Probleme und Unsicherheiten ehrlicher kommuniziert werden und es einen Raum gibt, in dem man sagen kann, dass man unsicher oder sogar überfordert ist. Ich habe den Eindruck, dass oftmals vorausgesetzt wird, dass man als Studienanfänger bestimmte Dinge weiß und kann – z.B. mit Blick auf das wissenschaftliche Arbeiten – aber das ist oft nicht der Fall. "Learning by doing" mag für einige Studierende funktionieren, aber längst nicht für alle und von guten Einführungsveranstaltungen in das Arbeiten und Leben an der Uni, würde jede*r profitieren. Ich wünsche mir außerdem, dass die Universitäten mehr Beratung und Unterstützung zum Thema „Berufseinstieg“ oder „Praktika“ bieten. Gerade bei geisteswissenschaftlichen Disziplinen „wartet“ ja kein konkreter Beruf am Ende des Studiums. Um trotzdem einen erfüllenden beruflichen Weg einschlagen zu können, braucht es ganz klar mehr Unterstützung und Austausch. Mit unserer Initiative "Arbeiterkind.de" versuchen wir, das ein Stück zu fördern und zu begleiten. Dabei noch mehr Mitstreiter auch auf anderen Ebenen zu haben, das würde ich mir wünschen.