"Es ist das Dilemma der Triage, dass sie die Schwächsten nicht schützt." – Thomas Bahne über Priorisierung und Verhältnismäßigkeit bei der ärztlichen Behandlung von Coronapatienten

Theologische Schlaglichter auf Corona
Symbolbild "Theologische Schlaglichter auf Corona" - mit Bild von Dr. Thomas Bahne

Die sogenannte “Triage” teilt Erkrankte und Verletzte nach Schwere ihrer Verletzungen ein und beschreibt damit die Priorisierung medizinischer Hilfeleistung. In Zeiten von Corona stößt eine solche Priorisierungsentscheidung jedoch auf eine Ressourcenknappheit an Intensivbetten. Sie wird folglich “zu einem Auswahlinstrument der ärztlichen Entscheidung darüber, wer (weiter-)beatmet und wer palliativmedizinisch zum Sterben begleitet wird”, befindet Moraltheologe Dr. Thomas Bahne. Häufig verlieren derlei Priorisierungsentscheidungen dabei den Fokus auf den individuellen Patienten, was zulasten alter und schwacher Menschen geht.

von Dr. Thomas Bahne

Es geht um Leben und Tod. Diese Zuspitzung gilt für die COVID-19-Pandemie ganz grundsätzlich, da die Menschheit dem Corona-Virus SARS-CoV-2 bis auf weiteres ohne Impfstoff und spezifische Medikamente entgegentreten muss. Sie trifft insbesondere dort zu, wo staatliche Gesundheitssysteme kollabieren und eine intensivmedizinische Versorgung aller COVID-19-Patient* innen nicht mehr leistbar ist. 

Wenn Präsident Macron am 16. März 2020 gegenüber der französischen Nation erklärt: „Wir sind im Krieg, einem Gesundheitskrieg“, dann insinuiert diese Metapher, dass die Virusbekämpfung außerordentliche Maßnahmen erfordert: Einerseits Verhaltensregeln zur Verlangsamung der Epidemie, um besonders vulnerable Bevölkerungsgruppen zu schützen und Kliniken zu entlasten, andererseits die analoge Anwendung von Maßnahmen wie der Triage, die in Kriegszeiten Ärzt*innen erlaubt, bei der Behandlung von Verletzten diese nach ihren Überlebenschancen „auszuwählen“ (franz. trier). 

Während die Triage im Alltag der klinischen Notaufnahmepraxis zur Ersteinschätzung der Behandlungsdringlichkeit dient, wird sie im Ausnahmezustand der Corona-Epidemie zu einem Auswahlinstrument der ärztlichen Entscheidung darüber, wer (weiter-)beatmet und wer palliativmedizinisch zum Sterben begleitet wird. Beim Besuch eines vom Militär errichteten Feldlazaretts im Elsass betonte Macron: „Wir haben nur eine Priorität: Das Virus zu schlagen.“ Was aber bedeutet dieser Schlachtruf im Hinblick auf mögliche menschliche Kollateralschäden im Kampf gegen einen „unsichtbaren und schwer fassbaren Feind“? 

In Straßburg haben Intensivmediziner – wie bereits in Norditalien praktiziert – entschieden, ab dem 21. März beatmungspflichtige COVID-19-Erkrankte über 80 Jahre nicht mehr zu intubieren; in Mülhausen setzten sie die Altersgrenze für eine intensivmedizinische Versorgung dieser Patient*innengruppe auf 75 Jahre herab. Diese Praxis der Altersrationierung ruft nach einer verfassungsrechtlichen wie medizinethischen Intervention, da sie die gleiche unveräußerliche Würde des Menschen sowie sein basales Schutzrecht gegen Diskriminierung verletzt. 

Dementsprechend haben deutsche medizinische Fachgesellschaften am 25. März (modifiziert am 17. April) eine klinisch-ethische Leitlinie verabschiedet: Entscheidungen über die Zuteilung von Ressourcen in der Notfall- und der Intensivmedizin im Kontext der COVID19- Pandemie, wonach der Auswahlprozess („Priorisierungsentscheidungen“) bei Ressourcenknappheit mit Blick auf die prognostizierte „klinische Erfolgsaussicht“ patientenzentriert erfolgen soll. Zentral ist dabei der Patientenwille, der durch eine Patientenverfügung oder Vorsorgevollmacht sicherstellt, ob bzw. wie lange eine intensivmedizinische Therapie (bei COVID-19 ist sie 14-21 Tage erforderlich, bei einer Heilungschance von 20-47%) überhaupt gewünscht wird. Jedoch verlieren Priorisierungsentscheidungen ihre Zentrierung auf den Patienten(-willen), wo auch die klinischen Erfolgsaussichten anderer Patient*innen maßstäblich herangezogen werden.

"Das Gute darf nicht auf Kosten des Gerechten verwirklicht werden."

– Thomas Bahne

Diesbezüglich hat der Deutsche Ethikrat in seiner Erklärung Solidarität und Verantwortung in der Corona- Krise vom 27. März jedoch vor „einem rein utilitaristischen Modus des Abwägens im Sinne einer bloßen Maximierung von Menschenleben oder Lebensjahren“ gewarnt, da ärztliche Handlungen hierdurch mit dem Verfassungsgrundsatz der „Lebenswertindifferenz“ kollidieren. Der Wert menschlichen Lebens darf nicht vergleichend abgewogen werden. Eine „reine Ergebnisorientierung“ an klinischen Erfolgsaussichten – zumal in Relation zu Dritten – sei ethisch nicht zu rechtfertigen. 

Damit ist auch die theologisch-ethische Sollbruchstelle der klinisch-ethischen Empfehlungen deutscher Fachgesellschaften vorgezeichnet. Aus gutem Grund hat die Moraltheologie auf die Adaption einer vom Nutzenprinzip geleiteten (Medizin-)Ethik verzichtet und stattdessen eigene handlungsleitende Grundprinzipien etabliert. Als Leitprinzip anerkennt sie immer schon die Heiligkeit bzw. Unverfügbarkeit des menschlichen Lebens, das als gottgeschenkte Gabe und Teilhabe am Leben Gottes in allen seinen Phasen – auch in Krisen – unbedingt zu schützen ist. 

Im Bereich der Medizinethik hat die Moraltheologie dieses Grundparadigma in eine Ethik der Menschenwürde übersetzt, die den Schutz der personalen Integrität sowie die Patientenautonomie theologisch begründet, wobei das Patientenrecht auf einen intensivmedizinischen Behandlungsverzicht bzw. -abbruch eingeschlossen ist. Zugleich ist sie dem Konzept der Vulnerabilität verpflichtet, einer Ethik der Fürsorge für besonders verwundbare und schutzbedürftige Personen(-gruppen), die beispielsweise vorerkrankt und somit einem größeren Risiko ausgesetzt sind. Mit Blick auf dieses ethische Grundprinzip warnt die Päpstliche Akademie für das Leben in ihrer Note Pandemic and Universal Brotherhood vom 30. März vor „einer Vernachlässigung vulnerabler Personen“ und plädiert für ein Bündnis zwischen Wissenschaft und Humanismus, um die COVID- 19-Pandemie – bildlich gesprochen – mit den „Antikörpern der Solidarität“ zu überwinden. Bereits die Richtlinien der US-amerikanischen Bischofskonferenz für den katholischen Gesundheitsdienst von 2018 haben die besondere Sorge für die Vulnerablen als ethische Grundkategorie ausgewiesen. 

Mit Blick auf die ärztliche Pflicht zur Lebenserhaltung jedes einzelnen Menschen kennt die Moraltheologie den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Er besagt, dass Art und Umfang der Hilfeleistung relativ zu den vorhandenen Kapazitäten, den therapeutischen Erfolgsaussichten sowie den möglicherweise prioritären Hilfspflichten gegenüber Dritten zu betrachten sind. Damit rechtfertigt sie das Vorenthalten einer intensivmedizinischen Therapie als tragische Unmöglichkeit zur Hilfe, wo die freien Beatmungsplätze gemessen an der Anzahl der beatmungsbedürftigen Patient*innen nicht ausreichend vorhanden sind (Triage bei Ex-ante-Konkurrenz). Will man in dieser Situation die Auswahl nicht per Los vornehmen, so wären, um den ethischen Schaden der Triage möglichst gering zu halten, die zeitlichen Faktoren Dringlichkeit und Chancengleichheit gegenüber dem Kriterium der prognostizierten Erfolgsaussicht unbedingt mit zu gewichten. 

Gemäß dem Prinzip der Schadensvermeidung (primum non nocere) wäre indes von einer unterlassenen Hilfeleistung auszugehen, sofern in einer Klinik – wie im Elsass praktiziert – entschieden würde, Intensivbetten für potentiell bedürftigere Fälle freizuhalten. Die Anwendung dieses Prinzips verbietet auch eine Triage bei Ex-post-Konkurrenz, bei der die weiterhin indizierte lebenserhaltende Behandlung eines COVID-19-Patienten trotz nicht infauster Prognose abgebrochen würde, um den dafür erforderlichen Respirator zur Rettung eines Patienten oder eine Patientin mit besseren Überlebenschancen einzusetzen. 

Das Gute darf nicht auf Kosten des Gerechten verwirklicht werden. Gemäß dieser Präferenzregel in ethischen Konfliktfällen erfährt die Hilfeleistung für den einen dort ihre Grenze, wo das fundamentale Recht eines anderen auf Weiterbehandlung verletzt wird, insbesondere wenn es sich um eine vulnerable Person handelt, die ihre Ansprüche nicht aus eigener Kraft geltend machen kann. Der ethische Grundsatz weist über eine bloße Verteilungsgerechtigkeit (Allokation) hinaus. Er wurzelt im Menschenwürdeprinzip und lässt sich durch das Vulnerabilitätsprinzip interpretieren. Das wusste bereits Thomas von Aquin, der in seiner Rechts- und Tugendethik die Lehre von der Heiligkeit des Lebens im Schnittpunkt von allgemeiner Gerechtigkeit und Einzelgerechtigkeit (iustitia commutativa) in ein konkretes und fundamental gleiches Lebensrecht übersetzt, das keinem Menschen aktiv entzogen werden darf. 

Dazu verpflichtet aus theologisch-ethischer Perspektive auch die Selbstidentifizierung Jesu mit dem „geringsten“, dem elendsten Menschen (Mt 25,40). Sie wurzelt in der uneingeschränkten Zuwendung, die er den Notleidenden geschenkt hat, und bestimmt sich im Geheimnis der Inkarnation – in der Annahme der allgemeinen vulnerablen Natur des Menschen durch den Sohn Gottes. Exklusiv, schützend nimmt der Christus medicus (Ex 15,26; Lk 5,17–26) die besonders Verwundbaren in den Blick: Die Armen, Gebrechlichen und Ausgegrenzten (Lk 14,13). Auch Emmanuel Macron scheint diese Perspektive vertraut, da er an seine Landsleute appellierte, „die Hilfe für die Schwächsten“ nicht zu gefährden. Eine Triage indes, die von der Perspektive des vulnerablen Menschen abstrahiert, begibt sich per se in Gefahr, die Schwächsten nicht zureichend zu schützen.

 

Hinweis der Redaktion: Dieser Beitrag ist zuletzt am 18. August 2020 aktualisiert worden.

Der Autor

Dr. Thomas Bahne ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Professur für Moraltheologie und Ethik an der Universität Erfurt. Sein Forschungsschwerpunkt liegt in der Moralphilosophie sowie in ihren bioethischen Anwendungsbereichen.

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