In den Stimmen der Opfer die Stimme Christi hören? Ein Plädoyer für utopisches Beten

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Graffitti mit schreiendem Kind
Thomas Soler
Thomas Sojer

Am 3. Feber 2022 hat die 3. Plenarversammlung des Synodalen Wegs das Papier "Macht und Gewaltenteilung in der Kirche – Gemeinsame Teilnahme und Teilhabe am Sendungsauftrag" in seiner endgültigen Fassung beschlossen. Viel wichtiger als das schon vom Damm gebrochene mediale Rauschen und Raunen wird die beflissene Lektüre des Papiers: Im Bibelkreis, im Religionsunterricht, im Pfarrgemeinderat, im Seminar an der Hochschule oder als zweite Lesung der Lesehore.

Hier liegt nun ein Text vor, der es verdient, nicht nur debattiert, zerlegt und kommentiert, sondern auch meditiert, wiedergekaut und ins Gebet genommen zu werden. Letzteres liest sich nun vielleicht, als ob das Papier Gebet nötig hätte: Vielleicht, weil sein Inhalt als defizitär erlebt würde und eine korrigierende Intervention von oben erfleht werden soll. Vielleicht aber auch andersherum, weil um einen göttlichen Beistand gebeten werden müsste, damit der Paraklet den Geist des Papiers in die Herzen der Gläubigen eingieße, mit anderen Worten, weil das Papier aus sich heraus, also ohne das Gebet, ohne das Feuer von oben, nicht bzw. weniger effizient rezipiert werden würde. Diese beiden Weisen Gebet zu deuten und zu praktizieren, meine ich jedenfalls nicht.

„Das Papier ins Gebet nehmen“ kann in meinen Augen keine Sakralisierung oder fromme Überhöhung bzw. frömmelnde Verflachung des Textes bedeuten. Ich möchte hier stattdessen Nicolas Malebranche und Simone Weil folgend Gebet als höchste Form der Aufmerksamkeit verstehen. Denn ich bin davon überzeugt, dieses Papier verdient neben den ohnehin stattfindenden heftigen Debatten jene Form der Aufmerksamkeit, die in meinen Augen im Papier selbst schon grundgelegt ist: Darin begegnet mir nämlich eine Kirche, die etwas „fühlen“ versucht. Das heißt, das normative Paradigma des „sentire cum ecclesia“ (mit der Kirche fühlen) wird performativ in eine „ecclesia sentiens“ (Kirche, die fühlt) gewendet. Dies fordert im Lesevollzug auch jene auf, die sich als Teil dieser Kirche bekennen, sich selbst in die im Papier geronnenen Prozesse einzufühlen. Wiederum sei hier entschieden von allen Formen der Emotionalisierung und Romantisierung im semantischen Feld von „Fühlen“ abzugrenzen. Was auf den ersten Blick als Fetischisierung einer Leseerfahrung scheinen mag, ist mein Versuch als Leser im eindringlichen „Wir haben verstanden“ des Textes einzustimmen. Und wie ohne Reue keine Vergebung der Sünden möglich ist, verdient dieses Papier auch eine affektive Hermeneutik.

Eine für mich bedeutungsschwere Passage ist der umfassend erkämpfte und breit interpretierte Absatz um die Rolle der Opfer innerhalb theologischer Erkenntnisgenese: „[Die Kirche] muss auf die Stimme derer hören, die von kirchlichem Machtmissbrauch betroffen waren und sind. In ihnen wird nach dem Zeugnis der Hl. Schrift (Mt 5,1–12; Mt 25,31–46) die Stimme Christi vernehmbar. Ihr Schrei ist ein besonderer "Locus theologicus" für unsere Zeit.“ (509–512)

Gregor Maria Hoff betont in seinem katholisch.de Beitrag Der Stimme der Betroffenen kann die Kirche nicht ausweichen - katholisch.de vom 6. Feber 2022, dass die Stimmen der Betroffenen mit dieser Passage dem kirchlichen Lehramt zugeordnet werden und damit eine bemerkenswerte Stellung erhalten: Indem der Schrei der Opfer als „besonderer Locus theologicus“ im Papier ausgewiesen wird, kommt der Perspektive der Betroffenen als solcher Autorität zu. Hoff reagiert damit auch auf Befürchtungen von Jan-Heiner Tück, der vor einer Instrumentalisierung der Betroffenen für kirchliche Strukturreformen warnt. Hoff sieht vor diesem Hintergrund im besonderen Locus theologicus ein Bollwerk gegen alle Instrumentalisierungen: „Es geht nicht darum, dass die Kirche ihnen [den Betroffenen] eine Stimme gibt, sondern dass ihre Stimme von sich her Autorität für die Lehre der Kirche besitzt. Die Menschen, die in der Kirche von Missbrauch betroffen sind, kommen zu Wort, und die Kirche muss hören. Das ist das Gegenteil von Instrumentalisierung.“

Die Kirche muss hören. Nun hört die Kirche in den Stimmen der Opfer aber nicht nur die Opfer, sondern auch die Stimme Christi. Ist das nur ein frommer Zusatz, in dem sich biblische Belegstellen parken lassen? Ich lese die Formel als theologisch von höchster Priorität und kaum zu überschätzen.

Aber was heißt es, auf die Stimme Christi im Schrei der Opfer zu hören? Die binnentheologische und binnenkirchliche Errungenschaft dieser Passage behält gleichsam etwas Ambivalentes – schon vor jeder Deutungshoheit in den kirchlichen Lagern, nämlich aufgrund einer darin impliziten Christologie: „In den Betroffenen kirchlicher Gewalt tritt der Kirche Christus entgegen“, wie Hoff diese Christologie pointiert formuliert. Warum wird hier ein Kollektiv der Betroffenen als ein Entgegentreten Christi beschrieben, in einer Weise, die an eine Art ‚corpus mysticum‘ erinnert? Werden die Opfer als gebündelter Körper auf Christus hin gleichsam durchsichtig gemacht? Dann verweist jede und jeder von ihnen als vereinheitlichte, durchsichtige Masse doch letztlich von sich weg? Und das individuelle Schicksal, der je eigene Schmerz eines jeden Opfers? Zehntausend Hostien, ein Christus?

Der Kritikpunkt gemäß dieser Lesart lautet: Das Leiden der Opfer werde zwar nicht unbedingt instrumentalisiert, aber medialisiert. Die Schreie der Opfer würden hier zum Tonträger der Stimme Christi. Liegt etwa darin das „Besondere“ des „besonderen Locus theologicus“? Eine Realpräsenz qua unschuldiges Leiden? Die Opfer würden so zur kollektiven „Persona“ (lat. Maske, Sprachrohr) Christi. Selbst wenn wir es umkehren – nicht die Opfer seien „Persona“ (Sprachrohr) Christi, sondern Christus ist die „Persona“ (das Sprachrohr) der Opfer, sozusagen deren Anwalt – vereinheitlicht und reduziert das doch immer noch auf eine abstrakte kollektive Figuration. Welche Rolle kommt denn hier einem Christus für die Deutung der je individuellen Leidensgeschichte und -wirklichkeit eines Opfers zu? Leuchtet nicht gerade in der unhintergehbaren Individualität einer jeden Leiderfahrung und Verletzung die unergründbare Würde des darin leidenden Menschen auf?

So eine Lesart könnte gar dazu verleiten, zu meinen, zugespitzt formuliert, die Kirchenleitung müsse in der Vielstimmigkeit der Opfer deuterokanonische Störgeräusche rausfiltern, um einen reinen Klang Christi daraus zu gewinnen. Konkret, zu regulieren, ob beispielsweise diese eine Schilderung der Betroffenen noch dazugehört zum „besonderen Locus theologicus“, und jene aber schon nicht mehr. Würde das nicht wieder eine Form des Weghörens sein? Wieso können die Opfer nicht einfach je einzeln für sich stehen ohne Kollektivierung und einen Rückbezug auf diesen Christus, wie ihn die Kirchenleitung als Ikone ihrer Macht „be-stimmt“? Identifiziert sich die Kirchenleitung nicht selbst dermaßen mit der Stimme Christi, dass jeder Versuch die Stimme Christi in den Stimmen der Opfer zu hören, nichts anderes bedeuten kann, als dass sich die Kirchenleitung am Ende einfach wieder selber hören will? 

Im Gesamtduktus des Dokuments wird unmissverständlich klar, dass so eine offensichtlich einseitige Lesart der Autor*innenintention gänzlich zuwiderläuft. Das Problematische einer Stimme Christi in den Stimmen der Opfer zeigt sich ja nicht darin, dass die Stimme Christi die Stimmen der Opfer tatsächlich „verschlucken“ würde oder wollte, d.h. sie ihrer individuellen Würde berauben bzw. deren Leiden relativieren oder ausblenden würde, sondern, dass die „Stimme Christi“ binnenkirchlich nichts anderes als eine Chiffre für maximale Autorität und Macht der Kirchenleitung bleibt. Somit ist selbst die Stimme Christi, so charmant der Nazarener auch gesprochen haben mochte, niemals harmlos.

Die alles entscheidende Frage ist somit, wem es zukommt, diese Stimme Christi in den Stimmen der Opfer auszulegen. Das sehe ich mit dem Konzept des besonderen Locus theologicus hermeneutisch noch nicht geklärt.

Wer ist die Ortschefin oder der Ortschef dieses „besonderen Locus theologicus“? Wenn Gregor Maria Hoff sagt, dass die Stimmen der Betroffenen „von sich her“ Autorität für die Lehre der Kirche besitzen, dann muss die Chiffre „Stimme Christi“ ganz neu mit Bedeutung geladen werden; nämlich qua Inkarnation Gottes als Garant für die Autorität einer uneingeschränkt bleibenden Vielstimmigkeit der Einzelnen „von sich her“ – unabhängig von der Deutungshoheit der Kirchenleitung. Die Stimmen der Opfer dürfen nicht nur für ein Medium Christi stehen, die dann kirchlicherseits althergebracht hermeneutisch angepasst und zugeschnitten wird, sondern die Betroffenen sind als Alteri Christi ihre eigenen Auslegerinnen und Ausleger. Sie vollziehen als solche mit Christus gemeinsam kraft ihrer Würde als Menschen, deren Recht der Unversehrtheit verletzt wurde, die Parrhesia: „Wenn die Welt neu geschaffen wird und der Menschensohn sich auf den Thron der Herrlichkeit setzt, werdet ihr, die ihr mir nachgefolgt seid, auf zwölf Thronen sitzen und die zwölf Stämme Israels richten“ (Mt 19,28). Die Betroffenen sind dann nicht nur ein „besonderer Locus theologicus“, der von Kirchenleitung und Theologie begutachtet, ausgelegt und kommentiert wird, sondern sie sprechen und „be-stimmen“ selbst die Auslegung ihrer Stimme als Stimme Christi. Die Stimme Christi darf nicht zum Taschentrick werden, um die Stimmen der Betroffenen letztlich wieder über hermeneutische Hegemonien theologischer Erkenntnislehre zu kontrollieren.

Vielleicht kann der performative Zugang des Gebets gerade hier Hilfe bieten, nämlich nicht die Stimme Christi in den Stimmen der Opfer deuten zu wollen, sondern hinzuhören, wieder und wieder hinzuhören und verstehen zu versuchen, indem wir das Du nicht bestimmen, sondern uns als Du vom Du „be-stimmen“ lassen, d.h. vom Du transformieren lassen. Für diese Transformation im Hören muss die Stimme Christi stehen. Christus als Garant für Alterität. Nicht zuletzt ist Gebet doch die Spezialisierung auf das Hören des Anderen, besonders das Hören auf die immer fremde Stimme Christi. Ignatius‘ Programmatik „Gott in allen Dingen suchen“ bietet diesbezüglich in dessen Exerzitien einen wichtigen Hinweis: Es sind gerade die klassischen Loci theologici wie Bibel, Tradition und Theologumena, die dort als Medium, Träger und Kontrastmittel verwendet werden, um der eigenen Verwobenheit mit Gott und Welt bis in die tiefsten Untiefen der eigenen Seele Sichtbarkeit zu verleihen. Gott in allen Dingen zu suchen, heißt die Welt zum Leuchten zu bringen. Nicht die Loci theologici gilt es für Ignatius zu erschließen, sondern ich erschließe mich und meine Welt in der fremden Blöße Gottes, die diese theologischen Orte beherbergen. Es gibt am Ende dann keinen reinen Gott, keine reine Welt, kein reines Ich mehr. Aber es gibt konkrete Entscheidungen im Handeln, die sich wechselseitig bedingen, sich aber letztlich nicht abstrakt konstellieren, sondern nur als zwielichtige Ambivalenz leben lassen.

Worin liegt also der Mehrwert, die Stimme Christi überhaupt ins Spiel zu bringen, d.h. die Stimme der Betroffenen auf Jesu Stimme zurückzuführen? Erhöht das etwa die Würde der Betroffenen? Nein, Christus ist ein Mahnzeichen für uns, nämlich, dass uns das Leid anderer nicht kalt lassen darf und kann. Ich lese die besondere Beziehung zwischen den Stimmen der Opfer und der Stimme Christi als ein Ereignis, das sich ebenso wenig konstellieren, d.h. als theologischen Mechanismus plausibilieren lässt; dem aber existentiell begegnet werden kann, z.B. mit einer Aufmerksamkeit und einer affektiven Hermeneutik wie es das Gebet ermöglicht.

Es ist diesbezüglich bemerkenswert, dass das Papier gerade den „Schrei“ der Opfer als einen besonderen „Ort der Theologie“ für unsere Zeit ausweist. Ein Schrei ist die zeitlich kontingente räumliche Ausdehnung der Stimme. Der Schrei ist ein raumschaffendes erschütterndes (vibrierendes) Ereignis von Dringlichkeit und Eindringlichkeit im Jetzt („für unsere Zeit“).

Sein Schall ist eine theologieermöglichende Erschütterung, die theologische „Kunstfenster“ zerspringen lässt und einmal gehört nicht mehr vergessen werden kann. Einmal gehört wird der Schrei zur conditio sine qua non einer anderen, vergessenen Theologie. Ton lässt nämlich keine Distanz zu. Sobald wir hören, hören wir immer schon gleichsam innerlich und äußerlich. Hier erscheint ‚Ort‘ nicht mehr auf einer statischen Topographie, einer von der Kirchenleitung abgesteckten Landkarte, die überblickt, besucht, durchwandert und wieder verlassen werden kann. Theologie kann den Schrei der Opfer nicht mehr als eine erkenntnisgewinnende Irritation aufsuchen, dann aber wieder weitergehen, ihre Grenzen ziehen und im Küchenlatein „extra ecclesiam nulla salus est“ stammeln. Stattdessen erscheint im Ereignishaften der Schreie das immer wieder fliehende Zentrum von Theologie. Der Schrei ist Utopie, Heimat im Nicht-Ort, immer gerade dort, wo Unrecht und Gewalt geschehen. So eine Theologie ist eine, die gar nicht anders kann, als mitgerissen zu werden, ob sie will oder nicht. Hier erschließt sich eine neue Form der Christozentrik, die nicht mehr einen in Stein gemeißelten Pantokrator als Achse umkreist: Erst wenn Theologie wieder eine Nomadin wird, kann sie ihr utopisches Zentrum „erhalten“ (im doppelten Sinn). Hier verlieren statische Christozentrik und autoritäre Christusrückbezüge ihre Mächtigkeit und stiften als Ruine ein Denkmal der bleibenden Komplizenschaft und Schuldverstrickung von Theologie. Alles was Theologie und Kirchenleitung von Christus bisher zu regulieren glaubten (Offenbarung, Sakramente, Sendung, etc.), offenbart sich in diesem Sturm als wanderndes Zentrum außerhalb ihrer Macht und Kontrolle, wie ein Umkreismittelpunkt eines beweglichen stumpfwinkligen Dreiecks.

Deshalb wird mir der Satz „In ihnen wird […] die Stimme Christi vernehmbar“ eine dringliche Aufforderung, anders zu beten, utopischer zu beten, als Nomade zu beten. Ich erlebe ein Gebet, das aus sich selbst „aufbricht“ (im doppelten Sinn), mich auf ein Zentrum außerhalb meiner Macht hin entleert. In diesem Zusammenhang empfehle ich das Papier mit der Aufmerksamkeit des Gebets zu betrachten. Gerade in diesem utopischen Beten sehe ich die Möglichkeit, die eminent bedeutsame Beziehung zwischen den Stimmen der Opfer und der Stimme Christi jenseits von theologischem Konstellieren nachzuspüren, als ecclesia sentiens, die nicht mehr erklären versucht, was ein Locus theologicus bedeutet, was aus einer Stimme an theologischer Erkenntnis raffiniert werden könnte, sondern die hört.

Thomas Sojer ist seit 2021 Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Professur für Philosophie und Mitbegründer des Simone-Weil-Denkkollektives. 

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