Ortlos durch die Pandemie

Theologische Schlaglichter auf Corona
Bild mit Krone

von Dominique-Marcel Kosack 

 

Die Monate der Pandemie verändern unsere Wahrnehmung von Raum und Zeit. Kontaktbeschränkungen beeinflussen unausweichlich auch Tagesabläufe, Terminkalender und Bewegungsmuster. Viele Orte, die wir vielleicht im Dezember 2019 besucht haben, sind nun ein Jahr später gar nicht mehr im Blick. Damit verbunden ist eine tiefergehende Entwicklung: Die Pandemie droht unsere Entfremdung von der räumlichen Dimension des Lebens zu verstärken.

Schon vor einigen Jahren hat der Soziologe Hartmut Rosa darauf hingewiesen, dass der Raum in unserer immer schneller werdenden Gesellschaft zunehmend an Bedeutung verliert.

Besonders durch die größere Mobilität und neue Kommunikationsmittel ist es meist uninteressant, wo etwas geschieht, solange es uns nur rechtzeitig erreicht.

Die global produzierte und verkaufte Ware, die Echtzeitkommunikation über tausende Kilometer hinweg, die fast unbegrenzten Informationen des Internets – nahezu alles wird immer und überall verfügbar.

Viele dieser Entwicklungen sind in den letzten Monaten nochmal stärker geworden. Schon im Frühjahr zeigte sich schnell, dass die Pandemie zwar notgedrungen vieles ausbremst, den Bedeutungsverlust des Raumes aber sogar noch steigert. Zwar können wir Distanzen wieder als solche wahrnehmen, wenn keine großen Reisen möglich sind und der heimische Wald plötzlich als Ausflugsziel wichtig wird. Doch in vielen Bereichen spielt sich das Leben nun erstrecht ‚ortlos‘ ab: Der Weihnachtseinkauf verlagert sich ins Internet, ebenso viele Freizeitaktivitäten und soziale Kontakte. Auch mancher Arbeitsplatz reduziert sich zwischenzeitlich auf den Bildschirm des heimischen Computers.

Besondere Orte erfahren

Dadurch kann der völlige Zusammenbruch verschiedener Lebens- und Arbeitsbereiche zwar verhindert werden und es entstehen auch viele neue Ideen. Was jedoch verloren geht, sind die Orte und Ortswechsel – und oft auch die Erfahrungen, die mit ihnen verbunden sind. Das Café ist ein anderer Ort als das Büro, die Fußgängerzone ein anderer als die Schule, das Theater ein anderer als das Vereinsheim. Dabei geht es nicht nur um die verschiedenen Funktionen, die sich mittlerweile allesamt in die eigene Wohnung verlagern lassen, – oftmals ermöglicht durch digitale Angebote und Paketdienste. Es geht vielmehr darum, dass mit dem besonderen Ort auch ein gesundes Verhältnis zur Welt zu verblassen droht.

Die Bedeutung, die Orte haben können, zeigt sich an kaum einem Beispiel deutlicher als an Kirchen. Eine schwere Tür muss geöffnet werden, die Mauern halten den Lärm der Straße draußen, Kerzen brennen, in einer Reihe kniet jemand und betet. Hier eröffnet sich ein Raum, der nicht nur bestimmte Funktionen erfüllt, sondern als Raum einmalige Erfahrungen ermöglicht. Gerade zu Weihnachten bringt die Pandemie hier besondere Herausforderungen mit sich: Die Kirche soll ein Ort sein, der niemanden gefährdet. Statt dichtem Gedränge gibt es für die Heilige Nacht daher Teilnehmerlisten und Obergrenzen. Aber ebenso soll die Kirche ein Ort sein, der niemandem verschlossen ist, gerade weil sich seine Wirkung nicht einfach über einen Livestream nach Hause holen lässt.

Das Matthäus- und das Lukasevangelium beschreiben im Zusammenhang mit der Geburt Jesu zwei Suchen: Da sind zum einen Maria und Josef, die in Bethlehem zunächst keinen Ort für die Geburt ihres Kindes finden, weil die Herberge ihre Obergrenze erreicht hat. Zum anderen suchen die Hirten und die Magier geleitet durch Engel und Sterne nach dem Ort, an dem der Retter und König geboren wurde, den sie verehren wollen. Alle diese Suchen enden an der Krippe. Spiegelbildich dazu können nun die Krippen in den Kirchen wichtig werden, damit Weihnachten auch jenseits von Teilnehmerlisten die Ortlosigkeit des Lebens in der Pandemie überwindet: weil die Krippe nicht einfach eine Funktion erfüllt, die sich auch digital umsetzen ließe, weil sich Menschen auf den Weg zu ihr machen, einen neuen Raum betreten und in diesem Gott begegnen können.

 

Dieser Artikel erschien ursprünglich am 13.12.2020 im "Tag des Herrn". 

Dominique-Marcel Kosack ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Professur für Dogmatik der Katholisch-Theologischen Fakultät Erfurt.