Vor der letzten Synodalversammlung ein Blick zurück zum Beginn: Die Frage nach der Zäsur

Kommentare & Meinungen
Fahnen mit dem Logo des Synodalen Wegs wehen im Sonnenlicht auf dem Frankfurter Messegelände

Bild: Synodaler Weg / Maximilian von Lachner

Prof. Dr. Julia Knop
Prof. Dr. Julia Knop

Etwa vier Jahre ist es her, dass der „Synodale Weg“ [1] der katholischen Kirche in Deutschland ersonnen worden ist. Am 1.12.2019 hat er begonnen; am 11.3.2023 wird er mit Abschluss der fünften Synodalversammlung enden.

Auslöser war die MHG-Studie [2] zu sexuellem Missbrauch durch Kleriker im Bereich der Deutschen Bischofskonferenz (DBK). Sie ist im September 2018 publiziert worden. Das Jahr 2018 wurde (nach 2010, als Missbrauch am Canisius-Kolleg Berlin öffentlich wurde) zu einem (zweiten) symbolischen Datum – noch nicht der institutionellen Erneuerung, sondern zunächst nur der institutionellen Erschütterung der katholischen Kirche in Deutschland. Diese Erschütterung des Systems Kirche wurde bekanntlich nicht durch Missbrauch und Vertuschung leitender Kleriker ausgelöst – wer eine Zeit lang Personalverantwortung in der Kirche innehatte, konnte von den Ergebnissen der MHG-Studie nicht mehr überrascht oder erschüttert werden, er konnte und musste sie kennen –, sondern dadurch, dass diese Strukturen der Sünde der Kirche, die nun mit Zahlen, Namen und Daten fundiert und konkreten Reformforderungen verbunden waren, öffentlich bekannt und öffentlich debattiert wurden. Das Bild der heiligen Kirche und ihrer über Zweifel und Kritik erhabenen Amtsträger war durch die nunmehr unabweisbare Realität einer in Schuld verstrickten Kirche in seinen Grundfesten erschüttert.

In dieser Erschütterung liegt der Auslöser, vielfach sicher auch das ehrliche Motiv der deutschen Bischöfe, einen „Synodalen Weg“ zu gehen und nötige Reformen in Gang zu setzen. Die Idee dazu entstand auf der Frühjahrsvollversammlung der Bischofskonferenz im März 2019 im emsländischen Lingen. Die DBK hatte einen Studientag anberaumt, um sich ein halbes Jahr nach der Publikation der MHG-Studie intensiv mit deren Erkenntnissen zu beschäftigen. Dieser Studientag stand unter der Überschrift: „Die Frage nach der Zäsur. Studientag zu übergreifenden Fragen, die sich gegenwärtig stellen“ [3]: Fragen zum kirchlichen Machtgefüge, zum Amtspriestertum und zur kirchlichen Sexuallehre und v.a. dazu, inwiefern kirchliche Traditionen und Gegebenheiten in diesen Themen (Macht-) Missbrauch durch Kleriker ermöglichen, befördern, zumindest nicht nachhaltig verhindern oder ahnden.

Diese Fragen nach systemischen Faktoren für (Macht-) Missbrauch in der Kirche stellten sich zwar schon eine ganze Weile. Angesichts der MHG-Studie (und weiterer Studien) zu sexuellem Missbrauch konnten sie 2018 aber nicht mehr als irrelevant oder unkatholisch abgetan werden. Sie markieren als Frage, besser gesagt: als Problembestimmung, eine nötige Zäsur und Zeitenwende in der Gestaltung kirchlichen Lebens. Am 13.3.2019, dem besagten Studientag, unternahmen die Bischöfe zunächst hinter verschlossenen Türen erste vorsichtige Schritte, sich mit diesen Problemen selbst- und systemkritisch auseinanderzusetzen. Dabei formte sich nicht nur der Wille, sie endlich anzugehen, sondern auch die Idee, dies in einem kooperativen Format, nämlich einem „Synodalen Weg“, gemeinsam mit dem Zentralkomitee der deutschen Katholiken (ZDK) zu tun. Das ZDK stimmte diesem Vorschlag im Mai 2019 unter der Bedingung zu, dass auch das kirchliche Frauenbild bearbeitet werde.

War 2018 eine Zäsur? Wird man 2018/2019 im Nachhinein als Momentum beschreiben, das eine kirchliche Zeitenwende initiierte? Wird man die synodalen Anstrengungen der Jahre 2019 bis 2023 einmal als Zeitenwende kirchlichen Lebens in Deutschland beschreiben?

Die Begriffe „Zäsur“ oder „Zeitenwende“ greifen weit aus. Sie wecken hohe Erwartungen. Die Erfahrung lehrt jedoch, dass tiefgreifende Veränderungen nicht mit einem Mal, sondern peu-à-peu erfolgen, manchmal infolge eines Kipp-Punktes und wohl immer mit Höhen und Tiefen, Fortschritten und Rückschritten, Erfolgen und Misserfolgen. In aller Regel werden sie erst im Nachhinein mit etwas Abstand als solche verstanden.

Das gilt umso mehr bei derart komplexen Reformbedarfen, die beim Synodalen Weg zur Debatte stehen. Kirchliche Strukturen der Sünde, Missbrauch begünstigende Momente, prägen auf struktureller, habitueller, theologischer und spiritueller Ebene. Entsprechend komplex und tiefgreifend müssen Lösungen ansetzen; entsprechend lang und schmerzlich und beschämend ist der Weg, die Probleme in ihrer Komplexität überhaupt wahrzunehmen und anzugehen.

Der institutionellen Erschütterung von 2018/2019 folgte bisher kein Systemwechsel. Weitreichende und tiefgreifende Veränderungen wurden bisher auch nicht initiiert. Was folgte, war vielmehr ein ausgesprochen mühsamer synodaler Weg der institutionellen Vergewisserung und Selbstkritik. Thematisch wurden die identifizierten Problemfelder aber intensiv bearbeitet; neue, zukunftsweisende, gut durchdachte Optionen wurden vorbereitet. Das betrifft, und dies ist wirklich neu und bemerkenswert, all jene neuralgischen Themen, die in Kirche und Theologie so lange unter Tabu standen. Beim Synodalen Weg wurde endlich die Machtfrage gestellt, statt weiterhin das kirchliche Machtgefüge in pastoraler Rhetorik zur „Dienstgemeinschaft“ zu verklären. Sinn und Zweck, Gestalt und Gefährdung des Amtspriestertums wurden endlich kritisch reflektiert, statt weiterhin eine nötige Professionalisierung priesterlichen Handelns unter Bezug auf Berufung und Stand abzuweisen. Kirchliche Misogynie und die strukturelle Diskriminierung von Frauen wurden endlich als solche benannt, statt weiterhin ihre kirchliche Schlechterstellung mit ihrer angeblich ganz besonderen, aber ganz anderen Würde, mit einem obskuren „Genius der Frau“, zu rechtfertigen. Lern- und Korrekturbedarfe in sexualibus, namentlich zu geschlechtlicher Vielfalt und zur nötigen Umstellung der Sexualethik auf eine Beziehungsethik, wurden endlich identifiziert und eingefordert, statt weiterhin unreflektiert von einer gefährlichen „Gender-Ideologie“ zu schwadronieren und kirchliche Homo- und Transphobie unter Rekurs auf den „Willen des Schöpfers“ zu legitimieren.

Dass endlich in einem kirchenoffiziellen Rahmen über diese Fragen diskutiert und gestritten wird, Reformbedarfe in kirchlicher Lehre und kirchlichen Strukturen offen benannt werden, ist für alle eine neue, gute Erfahrung, die natürlich erst erlernt und eingeübt werden musste. Über die Jahre ist dabei aber eine bemerkenswerte Debattenkultur in den Synodalforen und in der Synodalversammlung gewachsen. Dort zählt nicht (lehr-) amtliche Autorität, sondern Expertise und Erfahrung, Argumente und Authentizität.

Formal blieb freilich alles im Rahmen des alten, etwas erschütterten, aber insgesamt bemerkenswert stabilen, veränderungsresistenten Systems. Dieses kirchliche System stellt Umbauten im kirchlichen Machtgefüge und Lehrgebäude dem Willen derer anheim, die entsprechende Machtpositionen und Lehrgewalt innehaben. Dieses System prägt die Statuten des Synodalen Wegs; andere Formate, die die nötige Zäsur bereits voraussetzten, wären 2019 gar nicht durchsetzbar gewesen.  

Bischofskonferenz (DBK) und organisierter Laienkatholizismus (ZDK) verantworten zwar gemeinsam den synodalen Reformprozess, der gemeinsame Beratungen und Entscheidungen sowie geteilte Leitung auf allen Ebenen und in allen Phasen des Prozesses realisiert. Dennoch sind die Bischöfe vielfach privilegiert: Ihre Gruppe ist zu 100% in der Synodalversammlung vertreten; Bischöfe sind qua Amt Synodale, nicht aufgrund einer besonderen Expertise, eines Interesses und Engagements, einer Delegation oder Wahl. Ihre Stimme hat faktisch viel mehr Gewicht als die aller anderen Synodal:innen. Für einen Beschluss ist nicht nur die Mehrheit des Plenums, sondern auch die Mehrheit der Bischöfe in der Versammlung erforderlich. Eine bischöfliche Minderheit von gut 10 Prozent der gesamten Synodalversammlung kann jeden Beschluss verhindern. Was das bedeutet, wurde während der vierten Synodalversammlung im September 2022 klar, als der Beschluss des Grundtextes des vierten Synodalforums an einer Sperrminorität von 21 Bischöfen scheiterte.

Doch auch einvernehmlich getroffene Beschlüsse entfalten, wie die Satzung, Art. 11 (5) festhält, „von sich aus keine Rechtswirkung. Die Vollmacht der Bischofskonferenz und der einzelnen Diözesanbischöfe, im Rahmen ihrer jeweiligen Zuständigkeit Rechtsnormen zu erlassen und ihr Lehramt auszuüben, bleibt durch die Beschlüsse unberührt.“ Die formale Privilegierung der Bischöfe entspricht der Rolle, die ihnen im katholischen, klerikal hierarchisch organisierten System Kirche geboten wird.

Die großen Krisen auf dem Synodalen Weg entzündeten sich samt und sonders an der Machtfrage. Zur Erinnerung: Die theologische Einbindung und Kontextualisierung des kirchlichen Lehramts, die der (beschlossene) Orientierungstext initiieren sollte, wurde grundsätzlich infrage gestellt. Die Stimmen der von sexuellem Missbrauch Betroffenen sollten, wie im Zuge der Debatten um den Grundtext des ersten Synodalforums gefordert wurde, keinesfalls größeres Gewicht erlangen als formelle bischöfliche Autorität. [4]

Kurienkardinäle attestierten dem theologisch äußerst differenzierten Grundtext des dritten Synodalforums, das die Weltkirche zu einer Überprüfung der Autorität und Belastbarkeit des römischen „Nein“ zur Frauenordination auffordert, „sehr polemische Töne“. Anstelle einer argumentativen Auseinandersetzung erinnerten sie bloß autoritativ an den lehrmäßigen Abschluss der Debatte. Etliche Bischöfe, die die im Grundtext des vierten Synodalforums empfohlene Erneuerung der kirchlichen Sexuallehre ablehnten, begründeten ihr „Nein“ damit, dass sie strukturell und ideologisch in ein System von Autorität und Gehorsam eingebunden seien. Namentliche Abstimmungen, die nach dem Scheitern des genannten Grundtextes regelmäßig beantragt und durchgeführt wurden, wurden als unangemessene Eingriffe in die Gewissensfreiheit der Bischöfe diffamiert. Briefe nach und aus Rom forderten, die Alleinstellung der Bischöfe in Machtfragen als Alleinstellungsmerkmal des Katholischen zu bekräftigen.

Die 2019 gestellte „Frage nach der Zäsur“ kann der Synodale Weg 2023 noch nicht beantworten. Ob die Mühen dieses Wegs tiefgreifende Veränderungen der Strukturen, Gewohnheiten und Mentalitäten der katholischen Kirche initiieren konnten, bleibt abzuwarten. Deep Changes standen jedenfalls weder am Beginn des Synodalen Wegs noch sind sie jetzt, kurz vor seinem Abschluss, erkennbar, geschweige denn belastbar. Sie bleiben allerdings möglich. Im besten Falle führen die gemeinsamen Erfahrungen dieser Jahre, führt die geteilte Verantwortung von Bischöfen und Gläubigen auf dem Synodalen Weg, führen auch die dabei ehrlich ausgetragenen Konflikte und persönliche Begegnungen und Entwicklungen dazu, dass aus der institutionellen Erschütterung von 2018/2019 nun auch der Mut zu echter Erneuerung erwächst. Dazu sind nicht nur gute Worte, sondern belastbare Commitments der Bischöfe nötig: Entscheidend ist ihre Bereitschaft und Fähigkeit, die nötigen Reformen vor Ort zu implementieren und in der Weltkirche energisch einzufordern. Dass die heftigsten Krisen des Synodalen Wegs sich in Deutschland und in Rom an der Machtfrage entzündeten, bedeutet nicht, dass der Synodale Weg in Deutschland oder an Rom gescheitert wäre. Sondern das zeigt, wo der neuralgische Punkt liegt, an dem die „Frage nach der Zäsur“ einer Antwort zugeführt werden muss.

 

[1] www.synodalerweg.de

[2] www.dbk.de/themen/sexualisierte-gewalt-und-praevention/forschung-und-aufarbeitung/studien/mhg-studie

[3] www.dbk.de/presse/aktuelles/meldung/studientag-zum-thema-die-frage-nach-der-zaesur-zu-uebergreifenden-fragen-die-sich-gegenwaertig-stel

[4] Heft der Fakultät zum Lehramt der Betroffenen

Prof. Dr. Julia Knop ist Inhaberin des Lehrstuhls für Dogmatik. Seit 2020 ist sie Mitglied in der Vollversammlung des Synodalen Wegs und des Synodalforums 1: Macht und Gewaltenteilung in der Kirche – Gemeinsame Teilnahme und Teilhabe am Sendungsauftrag.

Zur Profilseite