Die Gedanken sind frei? Bilal Rana forscht an der Universität Erfurt zu den Sozialen Medien in Pakistan

Vorgestellt
Symbolbild Pakistan

Bilal Rana war wie besessen. Jede freie Minute verbrachte er mit Laptop oder Handy, um zu beobachten, was es Neues gibt. Denn in seinem Heimatland Pakistan bewegte sich etwas gesellschaftlich und politisch Relevantes: Wo der Islam die Gesellschaft prägt und ein sensibles Thema ist, erwachten religionskritische Stimmen aus ihrem Dornröschenschlaf und trauten sich trotz des pakistanischen Blasphemiegesetzes, das Islamkritik bis hin zur Todesstrafe ahnden kann, ihre Ideen und Gedanken öffentlich zu teilen. Das Aufkommen der Sozialen Medien, die Freiheit und Anonymität, die sie in ihrer öffentlichen Sphäre bieten, machten es möglich. Während Minderheiten und der gesellschaftliche Rand nun überhaupt erst eine Öffentlichkeit erreichen, nutzen traditionelle und auch extremistische Gruppen diese Plattform als Zugang zu noch mehr Menschen als über die klassischen Medien. Rana faszinierte diese Entwicklung nicht nur aus Sicht des liberalen Pakistani, des Internet- und Social Media-Nutzers, der er selbst ist, sondern auch als Medien- und Kulturwissenschaftler. Warum diese hobbyistische Besessenheit also nicht mit der Wissenschaft verbinden?! Heute ist Rana Stipendiat der Heinrich Böll Stiftung und untersucht im Rahmen seiner Doktorarbeit an der Professur für Islamwissenschaft der Universität Erfurt genau dieses Thema. Hier hat sich, aus der Ferne betrachtet, seine Anfangsthese aber erst einmal radikal geändert…

„In der öffentlichen Sphäre der Sozialen Medien können und sollen die Menschen in Pakistan über Religion frei diskutieren und sich austauschen – das war meine ursprüngliche Hypothese zu Beginn meiner Beobachtungen“, erklärt Rana nachdenklich. „Diese Hypothese hat sich aber schnell wieder geändert. Ich startete von einem optimistischen Standpunkt aus: Soziale Medien sind die neue demokratische Macht, jeder kann von überall her frei und gleichberechtigt seine Meinung äußern. Aber ich bin Anhänger der kritischen Theorie und musste mich fragen: Müssen die Sozialen Medien selbst nicht erst einmal kritisch betrachtet werden? Ich denke nun: Die freie Sphäre, die Facebook und Co. versprechen, gibt es gar nicht. Es kann sich am Ende meiner Untersuchungen natürlich auch als falsch erweisen.“ Dabei hat der Wissenschaftler seine empirische Inhaltsanalyse, bei der er die Outputs der einzelnen Sozialen Medien, ergänzt durch Interviews, qualitativ untersuchen möchte, noch gar nicht gestartet. Schon die intensive theoretische Auseinandersetzung mit den neuen Medien ließ ihn jedoch umdenken. Auch sie sind einer politischen Ökonomie unterworfen und verfügen über formelle und inhaltliche Machtstrukturen. Wer postet was von wo in wessen Namen und welche Gelder fließen dafür, wie wird zensiert und nutzt der Staat Aussagen im Netz für die Verfolgung eigener Kritiker? In Pakistan haben 10 bis 15 Prozent der Bevölkerung Internetzugang, von denen 85 Prozent die Sozialen Medien nutzen, vor allem junge Menschen bis 35 Jahre. Eine wichtige Zielgruppe, weiß Rana, und das haben auch die verschiedenen Gruppierungen im Staat erkannt. „Die Struktur der Gesellschaft spiegelt sich auch in den Sozialen Medien“, betont der Pakistani. „Natürlich geben soziale Medien eine gewisse Freiheit für Andersdenkende und Liberale. Aber auch die religiöse Mehrheit hat sie für sich entdeckt. Und dann sprechen wir plötzlich wieder vom selben Verhältnis: 10.000 kritische Stimmen gegen eine Million, die wie im wahren Leben eben auch die neuen Medien dominiert.“ Diese Überlegungen möchte der Böll-Stipendiat nun in seine Auseinandersetzung mit dem Thema einbeziehen und fragen: Wie verändern Soziale Medien die Machtstrukturen der politischen Autorität in Pakistan? Sind Minderheiten und die Gruppen, die in den klassischen Medien unterrepräsentiert sind, in der Lage, Soziale Medien zu nutzen und darüber ihre Auffassung von Religion zu äußern? Gibt es für sie überhaupt eine Möglichkeit, der geistlichen Mehrheit gegenüberzutreten? Sprechen diese verschiedenen Gruppen über die Sozialen Medien miteinander, und wenn ja, wie tun sie das? Dass Rana bei der kritischen Analyse des verfügbaren Inhalts und der Beantwortung dieser Fragen als Muttersprachler Heimvorteil hat, ist klar. Aber auch seine Erfahrungen im eigenen Land, wo er aufwuchs, als Vertreter liberaler Ideen studierte und an der Universität lehrte, sind unentbehrlich. „Ich möchte auch vor Ort Gespräche führen mit religiösen und nichtreligiösen Gruppen, die in den Sozialen Medien agieren, sowie mit den unterschiedlichen Richtungen innerhalb des Islam, um herauszufinden, wer welchen Nutzen aus den Sozialen Medien zieht. Ich bin kein Freund von nackten Statistiken. Ich möchte auch den wahren Ton treffen. Und da ich die Gesellschaft und ihre Spielregeln kenne, weiß ich, wie weit ich dabei gehen kann.“

Mit Professor Jamal Malik hat Bilal Rana an der Universität Erfurt einen Unterstützer seines Themas und seiner wissenschaftlichen Vorgehensweise gefunden. Rana fühlt sich hier gut aufgehoben, auch wenn es nicht die beste Zeit sei, in Ostdeutschland zu leben. Rassistische und ausländerfeindliche Momente hat auch er schon erlebt. Das beunruhigt ihn, seine deutsche Frau, Freunde und Kollegen sehr. Für den 33-Jährigen steht fest: Offenheit und Freiheit sind in keiner Gesellschaft universell und grenzenlos, politischer Extremismus hat viele Gesichter. Dass die hiesige Neorechtsszene auch intensiv die Sozialen Medien nutzt, weckt in ihm aber schon wieder die bekannte „Besessenheit“. Rana stellte bereits erste Gemeinsamkeiten zu seinem jetzigen Untersuchungsgegenstand fest, ein anschließendes vergleichendes Forschungsprojekt mit einer Kooperation könnte er sich gut vorstellen. Jetzt gilt es aber erst einmal, im „Network of the Pure“ – also in den Sozialen Medien jenes Landes, das wörtlich „Land der Reinen/Unverfälschten“ heißt – den Ideenaustausch im Islam aufzuzeigen und zu entschlüsseln.