"Ich kann den Aspekt der Nachhaltigkeit dieses Fellowships gar nicht genug betonen!"

Vorgestellt
Dr. Thiago Pezzuto vor dem Forschungsbau "Weltbeziehungen"

Weltweit sind Wissenschaftler*innen in frühen Phasen ihrer akademischen Karriere von staatlichen und nicht-staatlichen Eingriffen in die Wissenschaftsfreiheit betroffen – ganz besonders, weil sie sowohl in finanzieller Abhängigkeit stehen als auch gleichzeitig hohem Publikationsdruck ausgesetzt sind. Das neue “Academic Freedom Fellowship”, ein Programm, das Prof. Dr. Michael Riegner und Prof. Dr. Andreas Goldthau an der Universität Erfurt ins Leben gerufen haben, soll genau diese Wissenschaftler*innen unterstützen. Dr. Thiago Pezzuto, geboren und aufgewachsen in Rio de Janeiro (Brasilien), ist der erste Fellow. Er hat seinen Master in Public Policy an der Hertie School of Governance in Berlin gemacht und anschließend seinen Doktortitel in Hochschulbildung, Studentenangelegenheiten und internationaler Bildungspolitik an der University of Maryland (USA) erworben. Warum er dort nicht mehr bleiben konnte, berichtet er in unserem “WortMelder”-Interview…

Herr Dr. Pezzuto, herzlich willkommen in Erfurt! Sie kommen von der University of Maryland. Was haben Sie dort erforscht?
Ich war dort als Postdoktorand im Büro für Fakultätsangelegenheiten tätig, das wiederum Teil der Hochschulleitung ist. Meine Stelle wurde von der National Science Foundation (NSF) finanziert. Schwerpunkt meiner Arbeit war es neue akademische Karrieremodelle zu erforschen und damit dazu beizutragen, systemische Ungleichheiten in der Hochschulbildung zu beseitigen – mit dem übergeordneten Ziel, die Zahl der Fakultätsmitglieder aus historisch unterrepräsentierten Gruppen im MINT-Bereich zu erhöhen. Meine spezifische Forschung konzentrierte sich auf das, was wir als “Postdoc-to-Faculty-Konversionsmodell” bezeichnen.

Was reizt Sie an diesem Thema?
Es liegt mir einfach sehr am Herzen, weil ich wunderbare Jahre im Büro für Postdoktorand*innen-Angelegenheiten der University of Maryland (UMD) verbracht habe. Das Postdoc-System ist ein wichtiger und oft übersehener Teil der globalen Forschungslandschaft. Postdocs sind oft der Motor für wissenschaftliche Erkenntnisse und Entdeckungen, und es sind nicht selten internationale Wissenschaftler*innen, die diese Arbeit leisten. Zugleich sind sie oft mit großen Unsicherheiten konfrontiert, insbesondere Personen aus strukturell benachteiligten Gruppen. Kurz gesagt: Ich bin begeistert davon, Wege zu finden, wie Universitäten sie besser unterstützen können – nicht nur mit Schulungen, sondern mit klaren Konzepten für stabile, dauerhafte Karrieren. Mich reizt aber auch die Methodik, die ich für meine Arbeit in Maryland genutzt habe – das bibliometrische, wissenschaftliches Mapping, bei dem Indexdaten aus Tausenden von Artikeln verwendet werden, um visuelle Netzwerke eines bestimmten Fachgebiets und dessen Entwicklung darzustellen. Es handelt sich um eine sehr leistungsfähige Mischung aus quantitativer, algorithmisch gesteuerter Datenanalyse und tiefgehender, qualitativer Lektüre. Man erhält einen Überblick darüber, welche Themen, Autoren und Werke tendenziell immer wieder miteinander in Verbindung stehen und, was vielleicht ebenso wichtig ist, welche Bereiche in den resultierenden Karten weniger stark vertreten sind, wie beispielsweise Aspekte im Zusammenhang mit minorisierten Gruppen.

Und diese Forschung missfiel Elon Musks “Department of Government Efficiency”? Warum?
Nun, hier kann ich nur spekulieren. Meines Wissens wurden Milliarden von Dollar an Bundeszuschüssen für Dutzende von Behörden, darunter die NSF, gekürzt bzw. ganz gestrichen. Das führte schließlich dazu, dass Tausende von Einzelzuschüssen und Verträgen gekündigt oder ausgesetzt wurden. Angesichts der Tatsache, dass diese Kündigungen in einem bemerkenswert kurzen Zeitraum (etwa fünf Monate) erfolgten, kann man davon ausgehen, dass hierfür keine umfassende Überprüfung auf Einzelfallbasis stattfand. Das wahrscheinlichste Szenario ist, dass die zuständigen Mitarbeiter einfach die Datenbanken nach bestimmten Begriffen und Ausdrücken wie “Vielfalt” und “Minderheiten” durchsucht haben und diese Markierungen ausreichten, um eine unwiderrufliche Kündigung auszulösen.

Und Sie mussten Ihre Forschung beenden oder gehen? Wie lief das?
Soweit ich das in Erfahrung bringen konnte, wurden die Projektverantwortlichen darüber informiert, dass das Stipendium “nicht mit den aktuellen Prioritäten der NSF übereinstimmt” und “die Programmziele oder Prioritäten der Behörde nicht mehr erfüllt”. Nach dieser Mitteilung wurden die Aktivitäten sofort eingestellt.

Hat sich die Universität einfach dem Druck gebeugt oder gab es auch Widerstand oder Unterstützung für Sie?
Maryland hat während des gesamten Prozesses außergewöhnliche Widerstandsfähigkeit gezeigt. Ich sage bewusst “Prozess”, weil es wichtig ist zu betonen, dass die Kündigung im Mai nur eine, wenn auch vorerst letzte Episode in einem länger andauernden Zermürbungskampf war. Bereits im Januar hatte ein Bundesrichter als Reaktion auf eine Klage von verschiedenen Interessenverbänden und Generalstaatsanwälten eine einstweilige Verfügung erlassen, die einen Teil der ersten umfassenden Anordnung der Bundesregierung zur Aussetzung von Bundeszuschüssen im ganzen Land stoppte. Der Hochschulleitung gelang es dann, mir trotz der begrenzten Haushaltsmittel eine Finanzierung für einen weiteren Monat zu sichern. Diese Zeit habe ich dann genutzt, mich auf meine Rückkehr nach Brasilien vorzubereiten. Darüber hinaus nahm ich Kontakt zur Universität Erfurt auf.

Gab es noch andere Kollegen an Ihrer Universität, deren Forschungsprojekte eingestellt oder nicht mehr finanziert wurden
Ja, viele, in verschiedenen Wissensbereichen. Menschen, deren Arbeit sowohl administrativer als auch akademischer Natur war. Menschen, die sich sowohl auf amerikanischem Boden als auch in Übersee befanden.

“Indem wir diese Personen unterstützen, sich in der PostDoc-Phase an der Universität Erfurt wissenschaftlich zu etablieren, reagieren wir auf die wachsende Bedrohung eines der zentralen Prinzipien offener Gesellschaften. Und wir sehen zugleich die Möglichkeiten, die sich auch für Deutschland als Wissenschaftsstandort ergeben, wenn wir diesen Kolleg*innen hier eine Perspektive eröffnen. Insofern freuen wir uns auf den wissenschaftlichen Austausch mit Dr. Thiago Pezzuto".

Prof. Dr. Michael Riegner

Jetzt sind Sie in Deutschland, hier an der Universität Erfurt, als erster “Academic Freedom Fellow” – wie kam es dazu?
Im Wesentlichen durch Networking. Das und ein bisschen Glück, denke ich. Vor Jahren habe ich meinen Master in Public Policy an der Hertie School of Governance in Berlin gemacht. Mein Betreuer, für den ich auch als wissenschaftlicher Mitarbeiter tätig war, wurde mir ein enger Freund. Ich erzählte ihm von meiner Situation und wie es der Zufall will, hatte er in der Vergangenheit mit Prof. Dr. Michael Riegner zusammengearbeitet und so brachte er uns beide zusammen. Nach einem Zoom-Gespräch, das ich als außerordentlich unterstützend und produktiv in Erinnerung habe, stellte Professor Riegner mich wiederum Prof. Dr. Andreas Goldthau vor, der sich als ebenso unterstützend erwies – und zu meinem Glück auch als sehr pragmatisch und zielorientiert. Innerhalb weniger Wochen stellten die beiden einen Plan auf, der mir von Anfang an ebenso realisierbar wie spannend erschien. Sicherlich fanden daraufhin noch verschieden interne Gespräche statt aber aus meiner Sicht sind die beiden die “Architekten” meiner Vereinbarung mit der Universität Erfurt.

Was sind Ihre Pläne für die nächsten sechs Monate – wie möchten Sie Ihre Zeit hier nutzen?
Wie ich gerade erwähnt habe, haben Michael Riegner und Andreas Goldthau einen bemerkenswerten Aktionsplan aufgestellt, so dass ich ohne offene Fragen nach Thüringen gekommen bin: Es muss nichts improvisiert werden, alles ist vorab geklärt – das ist für eine effiziente Nutzung meiner Zeit von größter Bedeutung. Gemeinsam verfolgen wir nun zwei Ziele: Zum einen werde ich, wenn Sie so wollen, unter der Leitung von Professor Riegner an der sogenannten “Authoritarian Playbook”-Forschung arbeiten, bei der ich anhand von Fällen von Freiheitsverletzungen (akademischer und anderer Art) aus Brasilien und den USA einen Artikel verfassen und unter dem Titel “Lessons Learned” veröffentlichen möchte. Zum anderen möchte ich Förderanträge bei deutschen Behörden bzw. Institutionen einreichen. Und ich bin sehr dankbar dafür, dass ich hierfür auf die Beratung der Kolleg*innen der Willy Brandt-School of Public Policy und des Referats Forschungs- und Graduiertenförderung der Universität Erfurt zählen kann.

Ich kann den Aspekt der Nachhaltigkeit dieses Fellowships gar nicht genug betonen. Michael Riegner und Andreas Goldthau haben in unseren Gesprächen immer wieder betont, wie wichtig es ihnen ist, eine Perspektive für meine wissenschaftliche Arbeit zu schaffen – auch nach meinem Aufenthalt in Erfurt. Das Zeitfenster von sechs Monaten, das ich nun habe, ermöglicht es mir also zum einen, weiter zu forschen und andererseits an einer neuen Förderung zu arbeiten. Mit anderen Worten: Der Weg zum nächsten Ziel ist für mich jetzt genauso wichtig wie das Ziel selbst. 

Hatten Sie zuvor schon einmal von Erfurt gehört – von der Stadt oder der Universität? Wenn nicht, wie ist Ihr erster Eindruck?
Ja, natürlich. Das heißt, ich kannte die Brandt School und die Universität Erfurt schon eine ganze Weile, bevor ich mich mit der Stadt selbst beschäftigt habe. Als Doktorand in einem deutschen Master-of-Public-Policy-Studiengang war es ja praktisch unmöglich, Deutschlands erste Schule für Public Policy nicht zu kennen! Was die Stadt selbst angeht, muss ich zugeben, dass ich das Meiste während meiner Reisevorbereitungen und vor allem nach meiner Ankunft gelernt habe. Und das ist natürlich ein fortlaufender Prozess, aber ich schätze das sehr. In Deutschland habe ich bisher nur in Nordrhein-Westfalen und Berlin gelebt habe. Da bin ich von der mittelalterlichen Altstadt und dem guten Zustand der Gebäude natürlich sehr beeindruckt.

Sie sind nun seit einigen Tagen hier – wie wurden Sie von Ihren Kollegen „aufgenommen”?
Ich hatte während der vergangenen Jahre das Privileg, auf mehreren Kontinenten zu arbeiten und zu studieren, und ich kann ohne zu zögern sagen, dass ich nur selten einen Ort gefunden habe, der so offen und institutionell auf “Neuankömmlinge” vorbereitet war wie die Universität Erfurt. Alles war sofort einsatzbereit, die Einarbeitung verlief praktisch automatisch und ich stehe im engen Kontakt mit den für mich wichtigen Ansprechpartnern, was ich sehr schätze. Noch wichtiger ist für mich, dass ich so viele offene Türen, Herzlichkeit und Solidarität vorgefunden habe. In meiner ersten Woche hier hat sich die Leitung beispielsweise sehr bemüht, mir die Teilnahme an einem Gruppen-Retreat zu ermöglichen (das, wie Sie sich vorstellen können, seit Monaten in Planung war), damit ich mehr Gelegenheiten bekomme, meine neuen Kolleg*innen kennenzulernen und mich mit ihnen auszutauschen. Kurz: Ja, ich wurde aufgenommen. 

Wie können die Universität Erfurt oder das Stipendium konkrete Unterstützung leisten und mit wem werden Sie an der Universität Erfurt zusammenarbeiten?
Was die Frage nach den Personen angeht, werde ich in erster Linie mit Michael Riegner und Andreas Goldthau zusammenarbeiten. Meine akademische Heimat ist die Willy Brandt School of Public Policy, und ich werde auch der “Global Justice Clinic” angehören. Genau diese Struktur ist es, die die konkreteste Unterstützung des Stipendiums ausmacht. Man kann sich das wie eine Brücke vorstellen, die eine notwendige institutionelle Zugehörigkeit und vor allem die Zeit bietet, sich auf das zu konzentrieren, was als Nächstes kommt. Ich werde zudem auf das Fachwissen der Kolleg*innen der Brandt School und auf die prozedurale Beratung des Referats Forschungs- und Graduiertenförderung zurückgreifen können. Diese Unterstützung ist für mich von entscheidender Bedeutung, um mich bei der Beantragung von Fördermitteln in der deutschen Förderlandschaft zurechtzufinden.

Sie sind gut acht Flugstunden von Maryland entfernt – was vermissen Sie am meisten?
Oh, ganz klar die Menschen. Das ist doch das Wichtigste im Leben, oder? Ob in meiner ehemaligen Abteilung (die mit Abstand förderndste, die ich in meinem ganzen Leben kennengelernt habe) oder an allen anderen Orten, an denen ich gearbeitet habe, einschließlich des Office of Faculty Affairs und der Graduate School/Office of Postdoctoral Affairs, habe ich über die Jahre so viel Unterstützung erfahren. Diese Menschen haben mir nicht nur die bestmögliche Ausbildung gegeben, sondern mich auch in guten und schlechten Zeiten begleitet. Und wie mein Berater immer zu sagen pflegte: “Das Leben passiert, Thiago!”.

Please note: This interview is a translation from English. You can access the original article by switching to the English version of this website. Or simply click on this link.