Über die Erfurter Theologie

Zwischen kleinen und großen Jubiläen

Das vergangene Jahr 2017 war für die Katholisch-Theologische Fakultät der Universität Erfurt Anlass, sich aufgrund von drei Jubiläen ihrer Geschichte und ihrer bleibenden Aufgaben zu erinnern: Es waren fünfzehn Jahre, seit diese Fakultät 2003 in die 1994 wieder errichtete Universität Erfurt eingegliedert wurde. Dieses kleine Jubiläum war Grund, sich der Wurzeln dieser Fakultät zu erinnern. Die Eingliederung der Fakultät in die Universität verdankt sich der Tatsache, dass kluge Personen die Gunst der Stunde erkannten und mit Umsicht zu nutzen wussten.

Nicht vergessen werden darf dabei, dass die Katholisch-Theologische Fakultät der Universität Erfurt eine bewegte und für die Kirche im Osten Deutschlands sowie darüber hinaus wichtige Vorgeschichte hat. Sie führt die Tradition des Theologischen Studiums Erfurt fort, jener theologischen Ausbildungseinrichtung, die hier in Erfurt in der Zeit der Teilung unseres Heimatlandes, in der Zeit der Teilung unseres Europas und unserer Erde entstanden ist und unter den schwierigen Bedingungen des real existierenden Kommunismus das kirchliche Leben in Ostdeutschland prägte.

Damit sind wir beim zweiten Jubiläum, dessen die Fakultät im Jahr 2017 gedenken durfte; denn vor 65 Jahren wurde das Theologische Studium Erfurt als Ausbildungseinrichtung von künftigen Priestern und pastoralen Mitarbeitern für die katholische Kirche im Gebiet der damaligen Deutschen Demokratischen Republik eröffnet. Zusätzlich entstand mit dem Edith-Stein-Seminar eine theologische Ausbildungsstätte für Frauen. Unter schwierigen Bedingungen wurde in Erfurt in der Zeit des Kommunismus im Geheimen auch die Ausbildung von Priester und Theologe für Länder im Osten Europas, insbesondere für die damalige Tschechoslowakei, durchgeführt.

Traditionen bewahren und neue Brücken schlagen

Die Katholisch-Theologische Fakultät sieht sich zugleich als die Bewahrerin der Tradition der Theologischen Fakultät der alten Universität Erfurt und als eine der Brücken zurück zu den Anfängen der Universität Erfurt, die im 14. Jahrhundert gegründet, im Jahr 1816 geschlossen und 1994 wieder neu errichtet wurde. In gewisser Weise führt unsere Fakultät damit auch die Tradition der Theologischen Fakultät der ehemaligen deutschen Universität Breslau fort, die nach der Schließung der Universität Erfurt zu Beginn des 19. Jahrhunderts bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs für die preußischen Gebiete die Ausbildungsstätte in Katholischer Theologie war. 

Professoren der Breslauer Fakultät waren auch an der Gründung des Philosophisch-Theologischen Studiums Erfurt beteiligt. In der Tradition der alten Universität Erfurt und des Philosophisch-Theologischen Studiums Erfurt versteht sich die heutige Katholisch-Theologische Fakultät der modernen Universität Erfurt als Brücke nach Polen, nach Tschechien und zum Osten Europas.

Das vergangene Jahr 2017, im dem man in Deutschland und in vielen Teilen der Welt der Anfänge der Reformation vor 500 Jahre gedachte, war für die Katholisch-Theologische Fakultät in Erfurt ebenfalls Anlass, sich auf ihre Geschichte, ihre Aufgaben und Herausforderungen heute zu besinnen. Sie ist nicht nur eine Katholisch-Theologische Fakultät im Kernland der Reformation, sondern mit dem Auditorium Coelicum und der Kilianikapelle auf dem Domberg nutzt sie für ihre Lehrveranstaltungen Räume, in denen bereits Martin Luther gelernt und gelehrt hat und in denen er zum Priester geweiht wurde. 

Es ist für die Katholisch-Theologische Fakultät Erfurt deshalb selbstverständlich, dass die Reformation mit ihren Ursachen und die durch sie ausgelöste katholische Reform zentraler Gegenstand ihres Forschens und Lehrens sein müssen. Sie befasst sich mit den Anliegen und der Theologie der Reformation und der Geschichte des Konfessionalismus und sie weiß sich zu theologischer Forschung und Lehre in dezidiert ökumenischer Perspektive verpflichtet.

Eine Erfolgsgeschichte für die Theologie – inmitten der Diaspora

Als Katholisch-Theologischer Fakultät im Osten Deutschlands ist ihr besonderes Anliegen auch die Erforschung der Geschichte des katholischen Lebens in der Deutschen Demokratischen Republik, das durch die deutsche und europäische Teilung sowie eine staatlich betriebene Säkularisierung geprägt war. Die Existenz und das Leben als Katholische Christinnen und Christen in der Diaspora und in einer Umwelt, die durch staatlich-politische Vorgaben zunehmend ent-christlicht wurde, prägen bis heute jenen Raum, in dem und für den die Katholisch-Theologische Fakultät der Universität Erfurt Theologinnen und Theologen ausbildet. 

Als Katholisch-Theologische Fakultät in einem weitgehend säkularen und postreligiösen Umfeld und in der kritisch-reflektierten Auseinandersetzung mit ihrer Umwelt, hat sich die Erfurter Fakultät in den vergangenen Jahren einen signifikanten Vorschuss an Erfahrungen und Kompetenzen erarbeitet, von denen anderen Fakultäten in Deutschland und darüber hinaus in den sich gegenwärtig abzeichnenden gesellschaftlichen Entwicklungen und kulturellen Herausforderungen profitieren können. Die vielfältigen Forschungen der Fakultät zu diesem Themenfeld finden zusammen im gemeinsamen Forschungsschwerpunkt „Minderheit – Migration – Mission. Katholizismus im öffentlichen Raum der Gegenwart unter besonderer Berücksichtigung der historischen Situation Ost- und Mitteldeutschlands“.

Im Blick zurück auf 15 Jahre Katholisch-Theologische Fakultät an der Universität Erfurt sprachen Berichte in den Medien und Stellungnahmen von Persönlichkeiten des öffentlichen und politischen Lebens immer wieder von der Fakultät als einer Erfolgsgeschichte der deutschen Wiedervereinigung — doch inwiefern ist sie das? Weil das Professorium der Fakultät inzwischen weitgehend mit Personen aus den alten Bundesländern und aus dem westlichen Ausland besetzt ist? Weil die Fakultät es geschafft hat, Teil einer staatlichen Universität zu werden? Weil sie es geschafft hat, ihren Platz zu behaupten, in der Forschung präsent und mit Drittmittelprojekten immer wieder erfolgreich zu sein?

Eine Erfolgsgeschichte ist die Fakultät, weil sie es seit ihrer Gründung als Philosophisch-Theologisches Studium Erfurt immer wieder geschafft hat, die Wirklichkeit anzunehmen, sich allen Herausforderungen ohne Angst zu stellen und für schwierige Fragen kreative und unkonventionelle Antworten zu finden. Eine Erfolgsgeschichte wird sie auch in Zukunft sein, wenn sie weiterhin alle Aufgaben ebenso mutig und konstruktiv angeht. Mit gezielten Maßnahmen wirbt sie für ein Studium der Katholischen-Theologie in Erfurt. Sie hat Anstrengungen unternommen, sich und ihre Forschung in der Öffentlichkeit deutlicher sichtbar zu machen, und nutzt dafür die neuen Medien in all ihrer Vielfalt.

Angekommen im Zentrum Deutschlands

Die Katholisch-Theologische Fakultät Erfurt ist bereit, alle Chancen zu nutzen, die sich ihr heute bieten. Dazu gehört auch die neue ICE-Verbindung, die Berlin genauso wie München zu ihren Nachbarn macht. Erfurt, seine Universität und die Katholisch-Theologische Fakultät sind im Zentrum Deutschlands und Europas angekommen. Mit der Katholisch-Theologischen Fakultät ist der “Osten” im Zentrum angekommen. Katholische Theologie in Erfurt ist heute weit mehr als Katholische Theologie im Osten. Katholische Theologie in Erfurt ist Katholische Theologie im grünen Herzen von Thüringen, Deutschland und Europa. An Erfurt und seiner Fakultät führt kein Weg mehr vorbei. Es gilt: „Alle Wege führen nach Rom – viele davon über Erfurt.“

Theologie in Erfurt ist Theologie in der Mitte Deutschlands und Europas. In den kommenden Jahren wird sich die Katholisch-Theologische Fakultät auch verstärkt damit auseinandersetzen müssen, ob und wie dies ihre Lehre und Forschung auch inhaltlich neu akzentuieren und prägen soll. Vielleicht ist es für alle Angehörigen der Katholisch-Theologischen Fakultät, vielleicht auch der Universität und weit darüber hinaus, längst an der Zeit, mental einen Ortswechsel zu vollziehen und die eigene Position neu zu bestimmen. Ost und West werden sich in Deutschland zunehmend angleichen, dies gilt auch für die Stellung von Kirche und Theologie – falls sich hier nicht sogar schon längst die Angleichung vollzogen und falls hier nicht schon längst Bilder, Vorstellungen und Vorurteile einer grundsätzlichen und nachhaltigen Korrektur bedürfen. 

Nötig ist möglicherweise auch ein neuer und unvoreingenommener Blick auf die Umwelt, in der die Fakultät forscht und lehrt und für die sie Theologinnen und Theologen ausbildet. Vielleicht gilt es zu entdecken, dass auch der “Osten” doch nicht einfach nur säkular und ent-christlicht ist. Vielleicht gilt es auch zu entdecken, dass die Katholisch-Theologische Fakultät in der Mitte Deutschlands sowie Europas nicht mehr nur für Kirche und Gesellschaft im “Osten” forscht und lehrt.

Die Katholisch-Theologische Fakultät in Erfurt ist eine Ausbildungs- und Forschungsstätte in einer kulturell und historisch attraktiven und spannenden Region und sie entwickelt innovative Konzepte nicht nur in Forschung und Lehre, sondern für die Kirche und die Gesellschaft in Thüringen, Deutschland und Europa. Für Kirche und Gesellschaft stellt sie sich der Frage, wie Menschen in Zukunft leben und diese in gemeinsamer Verantwortung gestalten wollen. Studierende, Lehrende und Forschende aus aller Welt können an der Katholisch-Theologischen Fakultät Erfurt im grünen Herzen Deutschlands und Europas im Austausch mit Vertreterinnen und Vertretern aller Fächer der Universität Erfurt, sowie national und global vernetzt, die Vergangenheit in all ihren Facetten analysieren, die Gegenwart mit ihren Herausforderungen reflektieren und die Zukunft mitgestalten.

Prof. Dr. Dr. Thomas Johann Bauer
Erfurt im April 2018