Zwei waagerechte Striche und ein senkrechter – es war diese Zeichnung eines blinden Kindes, die einst Vera Göckelmanns und Jolana Pons‘ Interesse an taktil illustrierten Büchern weckte. Zwei waagerechte Striche und ein senkrechter – zwei Stufen und ein Geländer – ein Bus. Blinde Kinder nehmen Gegenstände anders wahr als sehende, das ist gemeinhin bekannt. Dass Kinderbücher für Blinde deshalb auch mehr als die Kombination von Blindenschrift und erhabenen Umrissen von in der Welt der Sehenden bekannten Symbolen sein sollten, diese Erkenntnis ist noch nicht so weit verbreitet. Ein gelber Kreis mit Strahlen stellt für sehende Kinder eine Sonne dar, für Sehbehinderte ist sie vor allem eines: warm, genau wie ein Bus für sie zwei Stufen und ein Geländer zum Festhalten sein kann. Für taktil gestaltete Kinderbücher besteht genau darin die Herausforderung: Wie kann eine Geschichte auch für blinde Kinder sinnlich erfahrbar gemacht werden? Jolana Pons und ihre ehemalige Kommilitonin Vera Göckelmann treibt diese Frage um. Gerade taktil illustrierte Bücher faszinieren die beiden, also Bücher, die sowohl eine haptische als auch eine visuelle Wahrnehmung ansprechen und damit für sehende und blinde Kinder gleichermaßen gemacht sind. Gemeinsam haben die Absolventinnen des Masters Kinder- und Jugendmedien an der Universität Erfurt nicht nur ihre Abschlussarbeit zu dem Thema verfasst, sondern sie bieten nach ihrem Abschluss nun auch das Praxisseminar "Medien für alle. Das Taktil Illustrierte Buch als mutiges Medium für Inklusion" an. Ein Besuch.
Nach und nach treffen die elf Seminarteilnehmerinnen zum Workshop in der Lernwerkstatt der Universität Erfurt ein. Die meisten mit vollen Beuteln, aus denen großformatige Pappen, Stoffreste und anderes Werkmaterial lugen. Denn nachdem es in den letzten Sitzungen vor allem um die theoretischen Hintergründe wie Inklusion und inklusive Medien ging, steht heute der praktische Teil des Seminars von Jolana Pons und Vera Göckelmann auf dem Programm: Die Studierenden sollen an ihrer eigenen taktil illustrierten Geschichte arbeiten. Zuvor stellt jeder aber erst einmal die eigens ausgedachte Geschichte und einen möglichen Text vor. Mit Früchten, Tieren und Planeten als Protagonisten nähern sich die jungen Kinderbuch-Autorinnen Themen wie Angst, Anderssein, die Trennung von der Familie, Stärken und Schwächen. Zu jedem einzelnen Projekt diskutiert die Gruppe, für welche Altersgruppe die Geschichte geeignet wäre, wie sie für Sehende und für Blinde ansprechend illustriert werden könnte, welchen Anteil Schrift und Braille zu Bildern und taktil erfahrbaren Elementen haben sollten und welche Materialien mit welchen Eigenschaften dafür infrage kommen. Musterstücke von ganz alltäglichen Dingen wie Wasserperlen, Relieftapete und Wollbommeln werden herumgereicht und neugierig betrachtet und befühlt. Könnte mit der Innenseite einer Zahnpasta-Tube vielleicht ein Regentropfen dargestellt werden? Hat ein rosa Make-Up-Schwamm das Potenzial, ein Oktopus zu werden? Um Fragen wie diese aber abschließend zu klären, heißt es dann erst einmal: ausprobieren. Dass die Seminargruppe für diesen praktischen Teil der Veranstaltung die Hochschullernwerkstatt des vom BMBF geförderten Projektes QUALITEACH der Universität Erfurt nutzen kann, freut die Seminarleiterinnen und -teilnehmerinnen besonders. Hier holen sie Kisten mit Stoffen, Papiersorten, Bändern und Farbmustern hervor und suchen noch nach den letzten geeigneten Materialien. Auch Jolana Pons und Vera Göckelmann, denn beide möchten das Seminar ebenfalls nutzen, um ein eigenes Projekt zu realisieren – für die eigene praktische Erfahrung. "Das war eines unserer Hauptanliegen im Seminar", sagt Vera Göckelmann. "Ein Stück weitere Praxis in das Studium der Kinder- und Jugendmedien einzubringen und den Studierenden zu ermöglichen, den Prozess des Buchmachens einmal selbst zu durchleben." Während ihrer Master-Arbeit konnten die beiden bereits ein Netzwerk zu anderen Menschen aufbauen, die sich mit dem Thema beschäftigen. In Deutschland ist diese Gemeinschaft noch relativ überschaubar und kleine Vereine können Buchprojekte wie die des Seminars nur durch Spenden realisieren. "Und zu diesen Büchern hat dann nur eine geringe Zahl Zugang. Viele wissen nicht einmal, dass es diese Art von Büchern gibt. Sie kennen nur Bücher für Blinde und Bücher für Sehende", weiß Pons. "Wir möchten ein wenig dazu beitragen, dass sich das ändert." Nicht nur die Seminarteilnehmerinnen wollen die beiden in ihrer Wahrnehmung und Denkweise bezüglich dieser inklusiven Medien schärfen. Mithilfe eines Vereins, den sie gerade gründen, sollen noch mehr dieser Projekte realisiert und Stadtbibliotheken entsprechend ausgestattet werden, um den Zugang zu taktil illustrierten Büchern zu erleichtern. Auch das eine oder andere Projekt aus dem Seminar soll dort seine Leser finden. Zuvor müssen die studentischen Arbeiten aber noch weiterentwickelt werden – und in einer Frühförderstelle den ersten Expertentest durch Eltern und Kinder mit unterschiedlichen Sehbehinderungen bestehen. Dann wird sich auch zeigen, ob die Wasserperlen glitschig genug für die Darstellung eines Fisches sind und ob Relieftapete als Oberfläche des Merkurs durchgeht.