Ein "Orientierungsmaßstab": Politikempfehlungen der christlichen Sozialethik

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Beleuchtete Reichstagskuppel am Abend

Im November 2018 laden die Katholisch-Theologische Fakultät der Universität Erfurt und das Katholische Forum im Land Thüringen erstmals zu ihrer neuen Veranstaltungsreihe “Theologie im Gespräch” ein. Am Vorabend des Wahljahres 2019 wollen Theolog*innen, Politiker*innen und Bürger*innen über die Frage “In was für einer Welt wollen wir leben?” ins Gespräch kommen und dabei die Perspektiven einer Gesellschaft im Wandel reflektieren. Für THEOLOGIE AKTUELL hat die Theologin und Diskussionsteilnehmerin Prof. Dr. Elke Mack bereits vorab festgehalten, welche sozialethischen Anforderungen sie an politische Akteur*innen und ihre Parteien stellt.

Prof. Dr. Elke Mack
Prof. Dr. Elke Mack

Kommentar von Prof. Dr. Elke Mack

In der katholischen Soziallehre geht es um die Humanisierung von politischen, sozialen und wirtschaftlichen Bedingungen zum Wohle der einzelnen Menschen. Und hierbei ist grundsätzlich die ganze Menschenfamilie gemeint, also nicht nur Thüringer, Europäer oder auch nur Staatsbürger. Als Mitglieder einer Weltkirche richten wir unser politisches Augenmerk immer auch auf die entlegensten Orte dieser Erde, genauso wie auf die weniger sichtbaren Notlagen innerhalb unserer eigenen Gesellschaft. Papst Franziskus hat die christlichen Seelsorger am Beginn seines Pontifikates noch einmal besonders darauf hingewiesen, besonders an die Ränder dieser Gesellschaft zu gehen und zu schauen.

Vor diesem Hintergrund will ich sieben sozialethische Zielsetzungen in das aktuelle politische Zeitgeschehen in Thüringen hinein formulieren, die für alle Parteien ein Orientierungsmaßstab sein können, ohne dass sie selbst christlich sein müssen:

  1. Politik sollte nicht nur für ihre Anhänger da sein, sondern gerade, wenn sie das Mandat zum Regieren hat, für alle. Gemäß unseres Sozialstaatsgebotes richtet sich ihre besondere Verantwortung auf die „Verlierer“ unserer Leistungsgesellschaft sowie auf die „Verlierer“ der Globalisierung. Egal welcher Couleur, unser deutscher Wohlfahrtsstaat zeichnet sich dadurch aus, dass er eine Ausfallbürgschaft für Notleidende bietet. Das bedeutet auch, dass Landespolitik im Sinne des Solidaritätsprinzips für Langzeitarbeitslose, Eltern und Kinder, Alleinerziehende, chronisch Kranke, arme Rentner*innen oder einfach „sozial Abgehängte“ ganz konkrete und ehrgeizige soziale Angebote machen sollte. Der Anstieg einer verfestigten Armutsquote von über 5 Prozent der Bevölkerung – hier um Osten Deutschlands sogar von 6,4 Prozent – muss durch gezielte Solidarität mit denjenigen, die nicht an der Leistungsgesellschaft partizipieren können, gestoppt werden. Es gibt einen Imperativ der Inklusion für Arme!
     
  2. Politik sollte für sozialen Frieden und ein menschenfreundliches Miteinander in der Gesellschaft sorgen. Es macht uns in der Kirche nämlich Sorgen, dass es in Ostdeutschland besonders viele Menschen gibt, die die Wende nicht als Befreiung erfahren haben und dem Staat nun ein Versagen vorwerfen. Der Anlass, nicht der Grund, sind 4,1 Prozent Ausländer in Thüringen beispielsweise, also sehr wenige im Vergleich. Hier hilft es nur, wenn der Staat vertrauensbildende Maßnahmen ergreift, z.B. gemeinnütziges bürgerschaftliches Engagement gefördert wird, das Menschen eine neue Heimat bietet. Darüber hinaus sind politische Anstrengungen für weltanschauliche Identitätsbildung in Schule und Gesellschaft gefordert, die den Grundwerten der Verfassung einen Sitz im Leben geben und auch einen Sinn für Weltbürgertum, kosmopolitische Offenheit, Toleranz und kulturelle Vielfalt schaffen. Religionsanbieter, Vereine, Brauchtum, soziale Bewegungen können hierzu Erhebliches beitragen, aber auch Jugendparlamente, Bürgerbeteiligung in politischen Entscheidungsprozessen, Einbeziehung von Einheimischen in kommunale Entscheidungen, damit die Menschen diesen Staat selbst tragen lernen und mit allen anderen Menschen zusammenarbeiten.

    Ein gezieltes Engagement des Staates, das sich auf die Förderung des weltanschaulichen Bereichs erstreckt, widerspricht keinesfalls seiner Neutralität, sondern behebt ein weltanschauliches Defizit, das besonders in den Neuen Bundesländern bereits staatsbedrohlich wirkt. Ich darf an das Böckenförd´sche Diktum erinnern, das besagt, dass der freiheitliche säkulare Staat seine weltanschaulichen Voraussetzungen nicht selbst schaffen kann. Das sei das große Wagnis, das er um der Freiheit willen eingegangen ist. Als freiheitlicher Staat könne er aber nur bestehen, wenn sich die Freiheit, die er seinen Bürgern gewährt, von innen her, aus der moralischen Substanz des einzelnen (…) selbst reguliert. (Staat, Gesellschaft, Freiheit. 1976, S. 60.) Und diese moralische Substanz des einzelnen muss einen geschützten Raum und Rahmen erhalten, um sich zu entwickeln, in Familien, in Schulen, in Gemeinden, in Kirchen. Das kann Politik nicht leisten, indem sie Leitkultur definiert, sondern indem sie Menschen eine Vielfalt an Weltanschauungen und religiösen Überzeugungen kennenlernen lässt, so dass sich die Menschen ihrer eigenen Werte rückversichern können und sich ein festes, demokratisches Wertefundament selbst bildet. Ein ethisches Vakuum ist demokratiebedrohlich! Ethische Urteilsbildung im Sinne der Grundwerte den Menschen durch qualifizierte Angebote zu ermöglichen, ist für die demokratischen Volksvertreter und Regierungen eine staatspolitische Aufgabe. Es sollte in jedem Fall vermieden werden, dass das Vakuum durch neue identitäre Bewegung gefüllt wird, weil dann Grundwerte der Würde, der Gleichheit, der Religionsfreiheit und der weltbürgerlichen Toleranz in Gefahr geraten.
     
  3. Politik muss die Grundlagen für den exzeptionellen Wohlstand, den wir alle hier in diesem Land genießen, erhalten. Noch nie in der deutschen Geschichte waren so viele Deutsche wie heute in Lohn und Brot (über 33 Millionen sozialversicherungspflichtig). Der Lebensstandard ist der höchste, den dieses Land je gesehen hat. Diese Bedingungen lassen sich nur erhalten, wenn den Unternehmen ein positives Wettbewerbsumfeld geboten wird, in dem Kreativität, Erfindungsreichtum und ein optimales Arbeitsklima möglich sind. Denn die Arbeitsplätze, die hierdurch entstehen, sind der Schlüssel für ein Leben ohne Not, ohne Entbehrungen und ohne soziale Krisen.
     
  4. Dennoch ist klar, dass Ökonomie ohne Ökologie nicht menschengerecht sein kann. Denn nur nachhaltiges Wachstum entspricht einer ökologischen Humanwirtschaft, wie Papst Franziskus die ideale Kombination in seiner Enzyklika „laudato si“ den Idealzustand benannt hat. Das bedeutete, dass alle gesellschaftlichen Bereiche, insbesondere die Wirtschaft, die ökologische Wende mitvollziehen müssen. Es bedeutet aber nicht, dass Ökologie eine neue Ersatzreligion ist. Vielmehr geht es um den Erhalt von Natur in ihrer positiven Form, die in früheren Jahrhunderten noch keine Rolle gespielt hat. Soziale Politik ist heute nur sozial, wenn sie immer auch ökologische Politik ist – egal welcher Couleur ihre Verantwortlichen sind.
     
  5. Demokratische Politik sollte jede Art von Rassismus, Diskriminierung und Exklusion von Menschen verurteilen. Sie sollte klar entlarven, dass Ausländerfeindlichkeit genauso wie Religionsfeindlichkeit ein Rückfall hinter zivilisatorische Standards Europas ist, für die sich jeder schämen muss, der sie schürt und öffentlich vertritt. Auch wenn Gesellschaften ein Recht darauf haben, nicht überfremdet zu werden und ihre Identität und Kultur zu bewahren, so obsiegt in einer ethischen Güterabwägung doch immer die Mitmenschlichkeit, die Gastfreundschaft und die Humanität. Denn jeder Mensch hat Würde und ein Recht auf Respekt. Wir sind im christlichen Abendland seit 2000 Jahren gehalten, unsere Mitmenschen zu lieben, auch die Fremden. Auch Thüringen wird sich seine liebenswerte Kultur und Eigenheit bei den gegenwärtig wenigen Migranten (4 Prozent) erhalten, die hier leben. Denn bei gelungener Integration werden auch Migrantinnen und Migranten den Charme dieser Wiege deutscher Kultur erkennen, teilen und die Liebenswürdigkeit der Menschen zu schätzen wissen. Der Glaube an den einen, humanen Gott, der im Islam, im Judentum wie auch im Christentum uns zu Mitmenschlichkeit motiviert, ist nicht das Trennende, sondern das Verbindende zwischen uns. Religion, die nicht fundamentalistisch ist, sollte keine Angst machen, sondern neugierig auf das jeweils andere. Fast immer bereichert sie uns, auch wenn wir den Glauben anderer vielleicht nicht teilen.
     
  6. Europa ist ein Friedensprojekt, das wir nicht durch Nationalismus und Populismus gefährden sollten. Der transnationale Zusammenschluss von europäischen Staaten, die sich Jahrhunderte lang immer wieder bekriegt haben, ist ein Wunder der Geschichte. Die Europäische Union ist weiterhin eine gut funktionierende rechtsstaatliche und demokratische Veranstaltung ohne imperialistisches Gehabe, so dass auch christliche Sozialethik sie als gerechte transnationale Organisation anerkennt. Denn vielfältige Politikbereiche haben durch die Abstimmung in Europa gewonnen (Internet, Verkehr, Gesundheitsschutz, Güteraustausch, Personenmobilität, gemeinsame Währung….). Es ist alles andere als eine Selbstverständlichkeit, dass wir uns heute von so vielen unterschiedlichen Kulturen bereichern lassen können und das auch noch von erheblichem wirtschaftlichen Vorteil für uns ist, im größten freien Wirtschaftsraum der Erde zu leben. Eine weltoffene Nation innerhalb eines multikulturellen Europas zu sein, ist nicht nur ethisch erstrebenswert, sondern auch ein wesentlicher Faktor für die persönliche Sicherheit und Freiheit als Menschen. Insofern sind die Wahlen zum Europäischen Parlament wichtig und es ist entscheidend, dass Europa nicht durch populistische Parteien in seinem friedlichen Zusammenschluss gefährdet wird.
     
  7. Politische Multiplikatoren sollten den Menschen erzählen, dass es ihnen noch nie so gut ging wie heute. Dies würde die Bindung an diesen Rechtsstaat und die Zustimmung zu unserer Demokratie erheblich fördern. Staatspolitisch kann so der Patriotismus für eine der weltweit besten demokratischen Verfassungen mit grandiosen Grundwerten gefördert werden. Dies geschieht aber nur, indem man überhaupt einmal darüber spricht, dass die Bundesrepublik Deutschland im weltweiten Demokratieranking (Freedom House Index), im Wohlstandsindex (Human Development Index, BIP), bei den bürgerlichen Freiheiten, bezüglich der Bildungsqualität, der Gesundheitsversorgung, der Einkommensverteilung (Ginikoeffizient 0,29) und der Lebenserwartung weltweit immer unter den ersten Nationen stehen. Leider gibt es kaum politische Multiplikatoren, die diese Fakten der im globalen Vergleich optimalen Situation unseres Landes in die Öffentlichkeit bringen und damit auch helfen, eine faktengemäße Zufriedenheit der Bürgerinnen und Bürger zu erzeugen. Dies soll von Seiten der christlichen Ethik im Sinne einer höheren Zustimmung für demokratische und rechtsstaatliche Politik, auch in Thüringen, angeregt werden.


Hinweis der Redaktion: Kommentare geben grundsätzlich die Meinung des jeweiligen Autors bzw. der Autorin und nicht die der Redaktion wieder.

Zur Autorin

Prof. Dr. Elke Mack ist Professorin für Christliche Sozialwissenschaft und Sozialethik an der Universität Erfurt. Sie wird am 7. November ab 19 Uhr im Erfurter Rathaus (Fischmarkt 1) im Rahmen der Podiumsdiskussion “Theologie im Gespräch” sprechen.

Weitere Informationen zur Veranstaltung in der News-Meldung "Neue Reihe: 'Theologie im Gespräch'"