Kolleg-Forschergruppe: "Religiöse Individualisierung in historischer Perspektive" gefördert durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG)

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Die Kolleg-Forschergruppe will Individualisierungen im Medium der Religion und deren Folgen für die Veränderung von Religion, also in ihrer religionsgeschichtlichen Dynamik, untersuchen. Dabei fragt sie insbesondere nach der Existenz und dem Umfang individueller Spielräume religiösen Handelns, der daraus resultierenden Gestaltung religiöser Traditionen und religiösen Reflexionen auf Individualität vor und außerhalb der okzidentalen Moderne wie in der Phase moderner Theoriebildung. Pauschale Theorien über Individualisierung und entsprechende universalgeschichtliche Konstruktionen sollen so durch die Frage nach den Bedingungen und Formen von Individualisierungsschüben wie -verlusten und nach der Tradition und Diffusion von religiösen Individualitätskonzepten ersetzt werden. Im Austausch historischer und systematischer Disziplinen werden so zugleich neue Quellen für die Religionsgeschichte erschlossen wie Paradigmen für die Beschreibung von Religionen, religiöser Erfahrung und religiösem Wandel überprüft und verändert.

Gefördert durch

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1. Förderperiode

1. Förderperiode (2008-2012, Leitung: Prof. Dr. Dr. h.c. Hans Joas, Prof. Dr. Jörg Rüpke)

Die Kolleg-Forschergruppe „Religiöse Individualisierung in historischer Perspektive“ will – unter der Leitung von Hans Joas und Jörg Rüpke und gefördert von der DFG – die bekannte Modernitätsdiagnose einer umfassenden Individualisierung aus dezidiert religionsgeschichtlichem Blickwinkel thematisieren und überprüfen. Dabei steht besonders die Frage im Vordergrund, ob individuelle Spielräume religiösen Handelns zu einer (Neu-)Gestaltung religiöser Traditionen führen und inwiefern dies seinerseits die religiöse Reflexion auf Individualität verändert – und zwar sowohl innerhalb wie außerhalb der westlich- „okzidentalen“ Moderne. Von dieser Untersuchung verspricht sich die Forschergruppe zugleich kritische Rückschlüsse auf die Tragfähigkeit modernitätstheoretischer Modelle: Pauschale Theorien über Individualisierung und entsprechende universalgeschichtliche Konstruktionen sollen gezielt dadurch korrigiert werden, dass die historischen Bedingungen und Formen von (Ent-)Individualisierungsschüben Berücksichtigung finden. Besonderes Augenmerk ist dabei auf die genaue Gestalt und die lebensweltliche Verbreitung religiöser Individualitätskonzeptezu richten, so dass sich in dichter Kommunikation zwischen historischen und religionswissenschaftlichen Disziplinen neue Quellen für die Religionsgeschichte erschließen lassen und herkömmliche Paradigmen für die Beschreibung von Religionen, religiöser Erfahrung und religiösem Wandel einer geschichtssensiblen Überprüfung unterzogen werden können.

Jenseits eurozentrischer und „modernistischer“ Engführungen also will die Kolleg-Forschergruppe den Zusammenhang von religiöser Individualität und Individualisierungsprozessen in zeitlicher Tiefe und geographischer Breite neu untersuchen, indem sie die „Bindestrich“- Disziplinen der Religionswissenschaften (Religionsphilosophie, -soziologie, -psychologie, -geschichte) in einen intensiven Austausch untereinander bringt und den Fellows zugleich den Raum bietet, einschlägige eigene Forschungen voranzutreiben. Damit wird sie einerseits zu einem differenzierteren Bild religiöser Individualisierung in der Moderne beitragen und andererseits – eben unter ausdrücklichem Einschluss auch des vormodernen und außereuropäischen Raums – innovative historische Perspektiven auf die Dynamik religiöser Traditionen eröffnen.
Um die eben umrissenen Forschungsziele zu erreichen, werden auf methodischer Ebene zwei wichtige Annahmen getroffen: Zum einen wird Individualisierung nicht als kontinuierlicher Prozess aufgefasst, sondern als ein sich in „Schüben“ abspielendes historisches Geschehen, das weder linear und bruchlos vonstatten geht noch als – im geschichtsphilosophischen Sinne – notwendig zu begreifen ist. Diese Vorannahme bedeutet allerdings keineswegs, dass die zu beobachtenden Akteure nicht auch auf frühere Durchbrüche, Schübe und Modellvorstellungen religiöser Individualität zurückgreifen und so neue Motive unter historisch benennbaren Voraussetzungen artikulieren. Zum zweiten wird die historische Untersuchung sich nicht vornehmlich am schillernden Individualisierungstheorem als solchem abarbeiten, sondern – ohne den erläuterten theoretischen Anspruch aufgeben zu müssen – gezielt auf den Bereich der Religion richten. Gerade hier nämlich lassen sich die anfangs angesprochenen „großen Erzählungen“ an einem konkreten Gegenstand relativieren und korrigieren: Den Thesen etwa, „achsenzeitliche“ Entwürfe universalistisch orientierter Religionen oder die reformatorische Radikalisierung persönlicher Heilssorge hätten „das Individuum“ zur Geltung gebracht, wird im Zuge dieser Vorgehensweise mit einiger Vorsicht zu begegnen sein. Ausgangspunkt ist lediglich die übergeordnete Annahme, dass die Untersuchung von Religion als einem umfassenden Symbolisierungsmedium für den Zusammenhang von Individuum, Gesellschaft und übergreifendem Ganzen methodisch besonders geeignet ist, um ein Verständnis auch größererhistorischer Prozesse zu ermöglichen. In diesem Sinne vom Unterscheidungszwang der Individualisierungsthese in „gute“ und „schlechte“ Religion entlastet, kann der Blick so auf die unterschiedlichsten Formen und Funktionen gerichtet werden, in denen sich der Anspruch auf Individualität als kreative Variation religiöser Traditionen zu erkennen gibt. Nicht mehr nur der „große Einzelne“, sondern auch die Spielräume sprachlicher Kompetenz, ritueller Performanz, ästhetischen Ausdrucks, sozialer Distinktion und der hierdurch vermittelten religiösen Erfahrung werden in ihrer Bedeutung für größere Gruppen und längere historische Entwicklungslinien erschlossen und darin zum Gegenstand religions-, kultur- und sozialwissenschaftlicher Forschung – dies nicht zuletzt auch deswegen, weil gegenüber monokausalen oder monothematischen Verkürzungen die vielfältigen Wechselbezüge zwischen religiöser Individualisierung und anderen Formen sozialer Differenzierung herauszuarbeiten bleiben.

Teilprojekte

1. Die Achsenzeit – Beginn der Individualisierungsthematik?

Verantwortlich: Prof. Dr. Hans Joas

Es wird der Frage nachgegangen, inwiefern die Achsenzeit, die von Karl Jaspers als Epoche (800 bis 200 v. Chr.) des Wandels zu einer theoretischen Kultur und der Entdeckung der Transzendenz in unterschiedlichsten Weltregionen (China, Indien, Persien, Israel und Griechenland) bekannt gemacht wurde, als Beginn der Frage nach religiöser Individualisierung verstanden werden kann.

2. Religiöse Individualisierung in der mediterranen Antike

Prof. Dr. Jörg Rüpke und Prof. Dr. Wolfgang Spickermann in Kooperation mit Prof. Richard Gordon, Veit Rosenberger sowie Henner von Hesberg (Rom).

Die Frage nach Spielräumen individuellen religiösen Handelns in der antiken Religionsgeschichte soll die die Forschung dominierende Dichotomie von Polisreligion einerseits und individualisierenden Mysterienreligionen wie Christentum (s. Thema 3) andererseits auflösen. Zu diesem Zwecke werden Variationen in individuellen Zeugnissen (Votive, Bestattungen, Stiftungen und Ausbau von Kultstätten im griechischen wie italischen Raum) auf ihre Bedingtheit durch Traditionen und ihre Enttraditionalisierung hin untersucht. Ergänzt wird dies durch die Frage nach religiösen Erfahrungen und der Institutionalisierung religiöser Erfahrung in Sakralarchitektur und Ritualen. Historische, rechtliche und religiöse Diskurse über Grenzen und Grenzüberschreitungen beleuchten entsprechende Entwicklungen von außen. Eine Verortung der Periode im Blick auf die Achsenzeitthematik wie die Genese von Institutionen und Texten, die für die Folgezeit wichtige Bezugspunkte von Individuierung werden können, soll komparativ durch den Blick auf frühere (z. B. Alter Orient) und spätere Epochen erfolgen.

3. Religiöse Individuen und Gruppen im römischen Reich und in der Spätantike

Prof. Dr. Jörg Rüpke und Prof. Dr. Wolfgang Spickermann in Kooperation mit Prof. Dr. Clifford Ando, Prof. Dr. Greg Woolf sowie möglicherweise Prof. Dr. Roland Kany und Prof. Dr. Eric Rebeillard.

Die Geschichtsschreibung zur Religion in der Spätantike ist durch das Erzählschema der Auseinandersetzung unterschiedlicher religiöser Konfessionen charakterisiert, wodurch religiöse Individualisierung zu einem konfessionellen Merkmal gemacht wurde. Dieses Schema soll in einem doppelten Zugriff kritisch beleuchtet werden. Zum einen bedarf der räumliche Faktor, die Situierung der Entwicklung in den Raum eines Großreiches, des Imperium Romanum, mit seinen Konsequenzen für Mobilität und Kommunikation des einzelnen, einer entschiedeneren Würdigung. Zum anderen ist aus der Perspektive des einzelnen neu nach Bedingungen und Kontexten religiöser Gruppenbildung und Grenzziehungen zu fragen. Hier hilft die Untersuchung neuer religiöser Rollen und der Reflexion dieser Veränderungen in Narrativen, neue Muster der Religions- und Kirchengeschichtsschreibung zu entwickeln. Für beide Untersuchungslinien legen sich Vergleiche etwa mit Entwicklungen im asiatischen Raum nahe.

4. Religiöse Bewegungen im Mittelalter

 Prof. Dr. Dietmar Mieth in Zusammenarbeit mit Prof. Dr. Michael Borgolte

1. Hypothese: Es gibt religiöse Individualisierung in Schüben im Mittelalter (MA), insbesondere als Emanzipation aus Paternalismus und als Privatisierung und Priorisierung der Innerlichkeit;
2. Hypothese: Individualisierung wird in der Profilierung von religiöser Erfahrung manifest, selbst wenn sich diese Erfahrung kritisch-religiös gegen Erfahrbarkeit im Sinne von „Erlebnis“ wendet. Thomas: „cognitio Dei quasi (!) experimentalis“;
3. Hypothese: Keine religiöse Individualisierung im MA ohne Gegenbewegung oder ohne Vorgänge, gegen die sie sich bewegt. Solche Anti-Individualisierung liegt z. B. vor in der Verrechtlichung des Religiösen (Vormarsch der Kanonistik und der päpstlichen Jurisdiktionsgewalt), in einer kirchlichen und staatlichen „una sancta“ Gesinnung; im damit verbundenen Doktrinalismus (gemildert durch scholastische Schulbildungen), im spätmittelalterlichen Fiskalismus und administrativen Durchgriff der päpstlichen und bischöflichen Verwaltungen. Zu diesen „Gegenschüben“ ist eine überblicksartige Zusammenfassung erforderlich, wie sie von Antoine de Libéra oder Arnold Angenendt erstellt werden könnte.

Beispielhafte Schübe, die untersucht werden sollen: 1. Bernhard von Clairvaux, „Buch der eigenen Erfahrung“ neben Buch der Schöpfung und Buch der Offenbarung, 2. Das Schicksal der Beginen vom 13. bis zum 14. Jahrhundert; ihr Einfluss auf Meister Eckhart am Beispiel Marguerite Poretes, 3. Individuelle Frömmigkeit – Untersuchung der Totenbücher und Schenkungen am Beispiel des Totenbuches im Erfurter Dominikanerkloster; 4. Einsiedlertum im MA (die Begründungen der individuellen asketischen Lebensformen bei Petrus Damiani). Im Übergang zur Neuzeit käme auch Caritas Pirckheimer in Frage: die „konservative“ Berufung auf religiöse Erfahrung gegenüber der erzwungenen Neuordnung der Reformation in Nürnberg (Vorschlag von Andreas Holzem).

5. Kontrolle und Gewissen

Dr. Nicole Reinhardt (maître de conférence) und Prof. Dr. Wolfgang Reinhard

Der Zusammenhang von Kontrolle und Gewissen kann als eines der zentralen Probleme der europäischen Moderne betrachtet werden. Bezeichnenderweise handelt es sich um eine jener Fragen, an der historiographisch der Übergang vom Mittelalter zur Frühen Neuzeit und damit zur „Modernisierung“ markiert wird: nicht eigentlich die Definition des Gewissens stand allerdings zu Beginn der Reformation zur Debatte, sondern die Frage seiner institutionalisierten Kontrolle (Beichte und Gerichtshöfe aller Art). Die Gewissenskontrolle wurde so in der Folge von Kirchenspaltung und Glaubenskampf einerseits zum zentralen Streitobjekt und andererseits zugleich auch zum wichtigsten Mittel religiöser und politischer Disziplinierung und Herrschaftssicherung. Die Gewissenskontrolle durchzieht so von Anfang an den Fundamentalprozess der europäischen Modernisierung, sie gestaltete das spezifische Verhältnis von „Innen“ und „Außen“, welches die Abgrenzung des modernen Individuums im europäischen Verständnis kennzeichnet.

6. Religiöse Wurzeln der Aufklärung im Pietismus

Dr. Magnus Schlette in Kooperation mit PD Dr. Gerald Hartung

Die Aufklärung ist, auch in Deutschland, zwar kein religionsfeindliches, aber doch ein religionskritisches Zeitalter. Die beiden wesentlichen Forschungshypothesen lauten, dass erstens unbeschadet der inhaltlich verschiedenen epistemischen und praktischen Überzeugungen, Wissensgehalte und Wertorientierungen die performative Struktur des Sich-zu-Sich-Verhaltens in Pietismus und Aufklärung in einer vergleichbaren Weise konzeptualisiert wird und den logisch identifizierbaren Strukturaffinitäten genealogische Bezüge entsprechen. Es wird danach gefragt, ob und unter welchen Bedingungen die These plausibilisiert werden kann, dass den frömmigkeitstheologisch angesonnenen Selbstverhältnissen im Pietismus eine Individualisierungsdynamik innewohnte, die der Methodisierung theoretischer und praktischer Vernunft sowie den ersten Ansätzen zur Autonomisierung der ästhetischen Urteilskraft in der Aufklärung Vorschub geleistet und insofern das intellektuelle Potential ihrer reflexiven Vergegenständlichung in Philosophie und Dichtung(stheorie) freigesetzt hat, ohne die das religionskritische Profil sich im Deutschland des 18. Jahrhunderts nicht hätte ausbilden können.

7. Pragmatismus, Individualisierung und Religion

Prof. Dr. Hans Joas / Prof. Dr. Matthias Jung / Prof. Dr. Dr. h.c. Hermann Deuser

Die zentrale philosophische Schule der USA – der Pragmatismus – entstand um 1870 nicht aus Säkularisierungsmotiven, sondern aus der Frage heraus, wie nach der Erschütterung traditioneller Gewissheiten, etwa durch den Darwinismus, eine neue Begründung für Wissenschaft, für Demokratie und für einen modernitätsfähigen religiösen Glauben möglich sei. Das Krisenbewusstsein dieser Denker stand dem etwa Nietzsches nicht nach; sie zogen aber ganz andere Schlussfolgerungen aus ihrer Diagnose. Die geplante Tagung will sich dem Religionsdenken der Hauptvertreter des amerikanischen Pragmatismus widmen und dabei auch die wissenschafts- und kulturhistorischen Zusammenhänge zu früheren amerikanischen (Jonathan Edwards und Ralph Waldo Emerson) und parallelen europäischen Entwicklungen berücksichtigen.

8. Religiosität um 1900 – Religionspsychologie, Historismus, Lebensphilosophie in Europa

Prof. Dr. Hans Joas / Prof. Dr. Matthias Jung

Die „kulturelle Doppelrevolution“ (G. Hübinger, ehemaliger Fellow des Max-Weber-Kollegs) um die Wende zum 20. Jh. verbindet zwei für Individualisierungsprozesse höchst bedeutsame Entwicklungen: die Neuorientierung sozialer Wissensformen durch die erkenntniskritisch begründeten Wissenschaften und den Umbruch von einer bürgerliche Elite zur industriellen Kultur der Massenkommunikation. In innerer Verbindung mit der nordamerikanischen Entwicklung, insbesondere den religionspsychologischen Pionierarbeiten von Starbuck, James und Leuba (Thema 7), aber auch in deutlichem Kontrast zu ihr arbeiten sich in Europa die neu entstehende Religionspsychologie, der Historismus in seinen vielfältigen Spielarten, die Lebensphilosophie und der Neukantianismus an diesen Entwicklungen ab. Parallel dazu kommt es auf der Ebene der Massenkultur zu einem lebensreformerisch inspirierten Schub vielfältig individualisierter Kulte und Bewegungen (Stichwort „Himmelfimmel“). Die geplante Tagung widmet sich der Aufarbeitung dieser Zusammenhänge zwischen den europäischen und transatlantischen Theorieströmungen sowie den religiösen Bewegungen der Zeit.

9. Religiöse Individualisierung als Herausforderung für die theologische Dogmatik im 19./20. Jh.

Prof. Dr. Dr. h.c. Hermann Deuser in Kooperation mit Prof. Dr. Saskia Wendel

Dass das Christentum in der Moderne unter massivem Veränderungsdruck stand und dass umgekehrt auch interne Entwicklungen der christlichen Theologien selbst, zumal im Einfluss der konfessionellen Differenzerfahrungen, dieselbe Moderne mitbestimmt haben, ist ein geschichtliches Faktum. Fraglich aber ist bis in die Gegenwart und deren Entscheidungsfragen für die Zukunft, wie und mit welcher Berechtigung bestimmte Veränderungen stattgefunden haben, provoziert wurden, zu vermeiden oder zu fördern wären. Die christliche Theologie und Dogmatik hat in den unterschiedlichen Modernen durchaus auch selbständig reagiert, die eigenen Fragestellungen gewahrt und Veränderungen bewusst gestaltet. Hier sind vor allem die Integration der historischen Methode in die Theologie zu nennen (seit dem 19. Jh.), dann auch die des naturwissenschaftlichen Weltbildes (Pragmatismus [Ende 19. Jh.], Prozesstheologie [20. Jh.]), und damit verbunden Entwürfe zur religionsgeschichtlichen, kulturtheoretischen, hermeneutischen, anthropologischen, sprachkritischen, wissenschaftstheoretischen Begründung theologischer Lehrstücke.

 

10. Religiöse Individualisierung im 20./21. Jahrhundert

Prof. Dr. Hans Joas / Prof. Dr. Jörg Rüpke / Prof. Dr. Martin Fuchs

Hier geht es einerseits um den Individualisierungsschub in den 60er Jahren im westlichen Raum und seine Bedeutung für die Religionsentwicklung. Besonders instruktiv ist in dieser Hinsicht der europäisch-amerikanische Vergleich. Während in den meisten europäischen Gesellschaften die explosionsartige Verbreitung expressiv-individualistischer Wertorientierungen in dieser Zeit säkularisierende Konsequenzen hatte – insbesondere auch in Hinsicht auf die Frauen, die vorher oft Widerstand gegen säkularistische Tendenzen der Männer geleistet hatten –, verändern ähnliche Individualisierungsprozesse in den USA eher die Struktur der Religionsgemeinschaften und das Verhältnis der Individuen zu diesen (vgl. die Forschungen unseres Fellows im Sommersemester 2009 P. Lichterman). Es entsteht auch eine Sakralisierung des Körpers und der Erotik sowie eine verstärkte Rezeption (wie immer mißverstandener) ost- und südasiatischer Religion. In Anlehnung an die vorbildlichen Forschungen Hugh Mc Leods ist hier noch Neuland zu erschließen. Wegen der Vernachlässigung der religiösen Dimension in den deutschen zeitgeschichtlichen Forschungen könnten die Ergebnisse auch für diese von enormer Bedeutung sein.

11. Religiöse Individualisierung und Interkulturalität

Prof. Dr. Wolfgang Reinhard und Prof. Dr. Martin Fuchs

Drei Thesen sollen untersucht werden: 1. Individualisierung durch christliche Mission? Danach müsste die religiöse Innovation der christlichen Sorge um das individuelle ewige Heil aller menschlichen Einzelseelen mit Notwendigkeit einen Individualisierungsschub ausgelöst haben. Weiter müsste die Entwicklung des Christentums weitere Schübe in dieser Richtung hervorgebracht haben und die massive Ausbreitung des Christentums über die Erde seit dem 16. Jahrhundert müsste dann weltweit Individualisierung zur Folge gehabt haben. 2. Weibliche Individualisierung durch christliche Mission? Inwiefern hat die Ausbreitung des Christentums zur Aufwertung weiblicher Individualität geführt? 3. Individualisierung durch binnenreligiöse Differenzierung? Zentral sind hier die Konflikte in unterschiedlichen Religionen zwischen individualisierenden Tendenzen und hierarchisch-institutioneller Orientierung.

 

Projektantrag in Auszügen (pdf)

Bericht über die erste Förderperiode (pdf)

2. Förderperiode

2. Förderperiode (2013-2017, Leitung: Prof. Dr. Martin Mulsow, Prof. Dr. Jörg Rüpke)

Zusammenfassung der 1. Förderperiode:

Die Kolleg-Forschergruppe (KFG) hat in der ersten Förderperiode (Joas/Rüpke) Individuali­sierungsprozesse im Medium der Religion in ihrer historischen Dynamik und mit Blick auf deren Folgen für den Wandel von Religion untersucht und die leitende Hypothese der Ableh­nung einer pauschalen systematischen Verknüpfung von religiöser Individualisie­rung mit Modernisierung bestätigt. Für die zweite Förderperiode (Mulsow/Rüpke) sollen davon aus­gehend vier Hypothesen im Zentrum stehen: (1) Da gezeigt werden konnte, dass religiöse Individualisierung sich nicht auf Phänomene der europäischen „Moderne“ beschränkt, eignet sie sich als eine heuristische Kategorie, um religionshistorische Prozesse in unterschied­lichsten Kulturen zu untersuchen. (2) Diese Individualisierungsprozesse sind weniger als isolierte Errungenschaf­ten, denn als Rekombinationen von verfügbaren religiösen Erfahrun­gen, Traditionen und Dis­kur­sen zu verstehen. Daher muss eine individualisierungsgeschicht­liche auch eine verflech­tungs­geschicht­liche Untersuchung sein, die auf Grenzüberschreitun­gen auf unterschied­li­chen Ebe­nen rekurriert. (3) Insofern religiöse Individualisierungspro­zesse eng mit Institu­tio­na­lisierung und Tradi­tions­bildung verbunden sind, sind diese Wech­selwir­kun­gen systematisch zu berücksichtigen. Individua­li­sierung und De-Individualisierung greifen immer in­ein­ander. Daher können in diesem Kontext auch Prozesse etwa von Kanoni­sierung, Tradi­tio­nalisierung oder die Bildung von Fundamentalis­men untersucht werden. (4) Theo­rie­ge­schich­tlich hat der Individualisierungs­be­griff als euro­zen­trische Ausgrenzungs­strategie gedient. Analog verab­so­lu­tierte häufig der Religionsbegriff das Kollektive. In Aus­einan­der­set­zung mit der Wissen­schaftsgeschichte kann ein Religions­be­griff entwickelt wer­den, der es erlaubt, Religion individualisierungs- und verflechtungs­geschichtlich – unter Vermeidung eurozentrischer Kurzschlüsse – zu rekonstruieren. Diese Hypothesen sollen durch die Bearbeitung der folgenden Arbeitsfelder untersucht wer­den: (I) die interaktionsfokussierte Untersu­chung religiöser Individua­lisierungsprozesse mit einem Blick auf (a) historische Akteure und (b) strukturelle Austausch- und Verflechtungsbe­ziehungen über kulturelle und vor allem religiöse „Grenzen“ hinweg; (II) langfristige Wirkun­gen von religiösen Individualisierungsprozessen angesichts „de-individualisierender“ Gegen­kräfte und Gegenstrategien, und (III) die Erarbeitung neuer Beschreibungs- und Analysebe­griffe und Kategorien als Ergebnis einer Reflexion in religions- und theologie­geschichtlicher Perspektive.

 

Projektantrag 2. Förderperiode (pdf)

Publikationen

Wichtigste Publikationen der Kolleg-Forschergruppe

  • Robert N. Bellah und Hans Joas (Hg.), The Axial Age and Its Consequences, Cambridge: Harvard University Press 2012.
  • Hermann Deuser und Saskia Wendel (Hg.), Dialektik der Freiheit. Religiöse Individualisierung und theologische Dogmatik, Tübingen: Mohr Siebeck 2012.
  • Martin Fuchs, »Diskontinuierliche Prozesse. Die transformative Kraft der Übersetzung«, in: Christian Alvarado Leyton und Philipp Erchinger (Hg.), Identität und Unterschied. Zur Theorie von Kultur, Differenz und Transdifferenz, Bielefeld: transcript 2010, 113–131.
  • Hans Joas, Die Sakralität der Person. Eine neue Genealogie der Menschenrechte, Berlin: Suhrkamp 2011.
  • Hans Joas, Glaube als Option. Zukunftsmöglichkeiten des Christentums, Freiburg: Herder 2012.
  • Hans Joas, José Casanova et al., Religion und die umstrittene Moderne, Stuttgart: Kohlhammer 2010.
  • Hans Joas und Andreas Pettenkofer (Hg.), Special Issue: Review Symposium on Hugh McLeod, The Religious Crisis of the 1960s, Journal of Religion in Europe 5.3 (2012).
  • Dagmar Gottschall, Yoshiki Koda und Dietmar Mieth (Hg.), Meister Eckharts »Reden an die Stadt« (Jahrbuch der Meister-Eckhart-Gesellschaft 6), Stuttgart: Kohlhammer 2012.
  • Britta Müller-Schauenburg und Dietmar Mieth (Hg.), Mystik, Recht und Freiheit, Stuttgart: Kohlhammer 2012.
  • Martin Mulsow, Prekäres Wissen. Eine andere Ideengeschichte der Frühen Neuzeit, Berlin: Suhrkamp 2012.
  • Kalpana Ram, Fertile Disorder. Spirit Possession in the Lives of Rural Tamil Women and the Limitations of Modern Subjectivity, Hawaii: University of Hawaii Press 2013.
  • Eric Rebillard, Christians and Their Many Identities, North Africa AD 200–450, Ithaca: Cornell University Press 2012.
  • Jörg Rüpke, Religion in Republican Rome. Rationalization and Ritual Change, Philadelphia: University of Pennsylvania Press 2012.
  • Jörg Rüpke, Aberglauben oder Individualität. Religiöse Abweichung im römischen Reich, Tübingen: Mohr Siebeck 2011.
  • Jörg Rüpke, »Starting Sacrifice in the Beyond. Flavian Innovations in the Concept of Priesthood and Their Repercussions in the Treatise ›To the Hebrews‹«, Revue d’histoire des religions 229 (2012), 5–30.
  • Magnus Schlette, Die Idee der Selbstverwirklichung. Zur Grammatik des modernen Individualismus, Frankfurt am Main: Campus 2013.
  • Magnus Schlette und Gerald Hartung (Hg.), Religiosität und intellektuelle Redlichkeit, Tübingen: Mohr Siebeck 2012.
  • Thomas Schmidt und Tobias Müller, Ich denke, also bin ich Ich? Das Selbst zwischen Neurobiologie, Philosophie und Religion, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2011.
  • Wolfgang Spickermann und Jörg Rüpke (Hg.), Religious Individuality. Forms, Contexts, Media Reflections on Religious Individuality: Greco-Roman and Judaeo-Christian Texts and Practices (Religionsgeschichtliche Versuche und Vorarbeiten 62), Berlin und New York: de Gruyter 2012.
  • Wolfgang Spickermann (Hg. in Verbindung mit Leif Scheuermann), Keltische Götternamen als individuelle Option? Akten des 11. internationalen Workshops »Fontes Epigraphici Religionum Celticarum Antiquarum« (Osnabrücker Forschungen zu Altertum und Antike-Rezeption 18), Rahden/Westfalen 2013.

Pressemitteilung

Rund 4,4 Millionen Euro für die Religionsforschung:Pressemitteilung Nr.: 145/2013 - 30.10.2013

Die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) wird die am Max-Weber-Kolleg der Universität Erfurt ansässige Kolleg-Forschergruppe „Religiöse Individualisierung in historischer Perspektive“ nach Ablauf der ersten Förderperiode nun bis Ende September 2017 weiter fördern. Dies teilte die DFG jetzt in einem Schreiben an die Hochschule mit. Im Rahmen der Förderung im Umfang von insgesamt 4.398.632 Euro werden Mittel für eine Professur, Fellows, die Teilvertretung der Antragsteller, projektspezifische Workshops, Mittel für weitere Mitarbeiter sowie für Öffentlichkeitsarbeit bzw. Publikationen zur Verfügung gestellt.

„Das ist eine wunderbare Nachricht für die Kolleg-Forschergruppe“, freut sich Prof. Dr. Jörg Rüpke, der zusammen mit Prof. Dr. Martin Mulsow den Antrag gestellt hatte. „Dass unsere Arbeit für weitere 48 Monate gefördert wird, gibt uns die Möglichkeit, noch tiefer in die Thematik einzusteigen.“ Und Universitätspräsident Prof. Dr. Kai Brodersen ergänzt: „Die erneute Förderung ist nicht zuletzt auch ein Zeichen dafür, dass die Forschung im Schwerpunkt Religion der Universität Erfurt weit über die Region hinaus Beachtung und Anerkennung findet“.

Die Kolleg-Forschergruppe hatte in der ersten Förderperiode religiöse Individualisierungsprozesse in ihrer historischen Dynamik und mit Blick auf deren Folgen für den Wandel von Religion untersucht. Dabei konnte die leitende Hypothese der Ablehnung einer pauschalen systematischen Verknüpfung von religiöser Individualisierung mit Modernisierung bestätigt werden. In der zweiten Förderperiode werden sich die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler nun davon ausgehend auf drei Felder konzentrieren: historische Fälle religiöser Individualisierung, auf deren Basis die Forschergruppe eine Typologie religiöser Individualisierung versuchen wird, sowie verflechtungsgeschichtliche Analysen von Individualisierungsprozessen, etwa zwischen Europa und Indien unter anderem über die Brücke Islam, vor allem in der frühen Neuzeit. Darüber hinaus wollen die Forscherinnen und Forscher intensiver nach der Religionsgeschichtsschreibung selbst fragen, z.B. wie Vorstellungen von (fehlender) Individualisierung den Religionsbegriff in der Religionsgeschichtsschreibung der Frühen Neuzeit und Moderne beeinflusst haben.

Weitere Informationen / Kontakt:

Diana Püschel