Für eine Exploration dieses neuen Forschungsfeldes hatten die Liturgiewissenschaftler Dr. Dominik Abel (Tübingen), Prof. Dr. Benedikt Kranemann (Erfurt) und Prof. Dr. Stephan Winter (Tübingen) am 27./28. November 2025 zu einem Fachgespräch in das Erfurter Forschungsgebäude „Weltbeziehungen“ eingeladen. Wissenschaftler:innen, vor allem aus der Liturgiewissenschaft, der Kirchengeschichte und den Geschichtswissenschaften, aus Deutschland, Österreich und der Schweiz, aber auch Indonesien und verschiedenen Ländern Afrikas waren der Einladung gefolgt.
Die christlichen Missionar:innen, die im 19. und 20. Jahrhundert etwa in die deutschen Kolonien in Afrika kamen, brachten ihre eigenen Liturgien mit. Blieb das, was beispielsweise Benediktiner oder Jesuiten als lateinische Liturgie feierten, vom neuen kulturellen Kontext unberührt? Wie sahen die Räume für Gottesdienste aus, wie die Ikonographie? Wo nahmen die Menschen vor Ort freiwillig teil, wo gab es Zwang? Das Fachgespräch befasste sich mit Beispielen rituell-religiöser Praxis in Afrika und Kanada. Die religiöse Praxis anderer Kulturen sollte wahrgenommen, das bislang unbearbeitete Feld eigener, „westlicher“ Liturgiegeschichte erforscht werden.
Diese Geschichte zeigt zudem Wirkung bis in die Gegenwart. Methoden der Liturgiewissenschaft, Begrifflichkeiten, theologische Konzepte, die in Theologie und Liturgiewissenschaft vertraut sind, müssen neu diskutiert werden. Es wurde u. a. vorgeschlagen, die komparative Liturgiewissenschaft mit Blick auf bislang marginalisierte Kulturen weiterzuentwickeln, Ansätze der Oral History aufzunehmen und kritische Methoden in der Liturgiewissenschaft zu fördern. Immer wieder wurde die Frage nach geeigneten Quellen angesprochen, die sich mit Blick auf oral tradierende Kulturen nachdrücklich stellt. Hier könnte materiellen Zeugnissen der Liturgiegeschichte eine wichtige Rolle zukommen.
Interessante theologische Perspektiven eröffnen sich, wenn die Kosmologie in Praktiken der First Nations, die Rolle von Familie oder Clan bei der Bewältigung von Sterben und Tod sowie die Verantwortung von Frauen für Rituale und Festpraktiken beachtet werden. Das Bild der Missionar:innen erwies sich als vielschichtig, aber auch das der Opfer. Mehrfach wurde angemahnt, Opfer kolonialer Gewalt auch in ihrer Widerständigkeit wahrzunehmen. Praktiken, die die Durchsetzung westlicher Liturgie durch französische Missionar:innen in Kanada belegen, lassen auf die Praxis im Heimatland Rückschlüsse zu. Liturgie in den Kolonien wird so zum Spiegel für Verhältnisse in Europa. „Die Vernetzungen zwischen Europa und den Ländern des Globalen Südens erweitern den Blick auf eine Geschichte des Christentums“, so Dominik Abel. Man könne, mit dem indischen Historiker Dipesh Chakrabarty formuliert, von einer „Provinzialisierung Europas“ auch in der Liturgiegeschichte sprechen – was nach einer weiteren und vertieften Bearbeitung dieses Forschungsfeldes verlangt, die in Erfurt vereinbart wurde.


