Unsere Wahrnehmung ist, dass sie ihren selbstgesteckten Zielen und Bestrebungen nicht gerecht geworden ist. Erstens hat unsere Disziplin das diskursive Feld in Deutschland einem simplifizierten, ahistorischen und wissenschaftlich unfundierten Narrativ über den Nahostkonflikt überlassen. Sogar etablierte Sozialwissenschaftler:innen und Vertreter:innen der deutschen Internationalen Beziehungen haben mit medialen Auftritten und Beiträgen zur Verbreitung solcher Narrative und Konfliktrahmungen und zur Verdrängung relevanter Nahostkonflikt-Expertise beigetragen. Gleichzeitig blieben akademische Fachtagungen und Workshops zum Konflikt, zu seinen Gewaltdynamiken, zum Hamas-Terroranschlag und zur israelischen Zerstörung Gazas aus. Dieser Prozess spiegelt Machtverhältnisse und Sichtbarkeiten in der deutschen Diskurslandschaft wider, in der es in kaum Raum gab für Forscher:innen mit von gängigen Positionen abweichenden Haltungen und Erkenntnissen.
Zweitens ist es uns nicht gelungen, der massiven Einschüchterung gegen politische Kritik an der israelischen Regierung adäquat zu begegnen. Diese Einschüchterung umfasst Angriffe auf die Wissenschaftsfreiheit und berührt damit unser Kerninteresse an einem funktionierenden System universitärer Wissensproduktion. Getragen wurde diese von früh im Gazakrieg wahrnehmbaren Pro-Israel-Allianzen in Politik und Zivilgesellschaft, wiederum mit Beteiligung von IB-VertreterInnen. Eine kritische akademische Auseinandersetzung mit diesen gesellschaftlichen Kräfteverhältnissen hat in unseren Reihen (noch) nicht stattgefunden.
Drittens stellen wir auch ein normatives Versagen in unseren Kreisen fest, zumal wir nicht rechtzeitig, basierend auf unserer Expertise zu Konflikt- und Gewaltdynamiken, auf Kriegsverbrechen und genozidale Handlungen der israelischen Armee im Gazastreifen hingewiesen haben.
Zusammengenommen ist die deutsche IB ihrer Verantwortung nicht gerecht geworden, sowohl mit Bezug auf die palästinensische Zivilbevölkerung als Opfer israelischer Gewaltverbrechen als auch auf unsere aufklärerische Verantwortung als Wissenschaftler:innen im politischen und gesellschaftlichen Diskurs hierzulande. Weil wir unsere Erkenntnisse nicht früh genug kommuniziert haben, blieb lange eine diskursive Toleranz gegenüber israelischen Kriegsverbrechen bestehen, ungeachtet der Gefahr, die solch eine Toleranz für unser Bild einer regelgeleiteten internationalen Ordnung darstellt. Die Stimmungswende hin zu einer vorsichtigen Kritik an Israels Kriegsführung ab Mai 2025 kam viel zu spät und war darüber hinaus von keiner wissenschaftlichen Haltung getragen. Sie ist eher eine Antwort auf das nicht mehr zu leugnende palästinensische Leid, auf internationalen Aktivismus und Humanitarismus.
Mit dieser Tagung wollen wir den dominanten Fehldeutungen des Nahostkonflikts und des Gazakriegs kritisch und konstruktiv begegnen. Wir hoffen, durch eine gemeinsame Erörterung der Gründe und ein Zusammentragen unserer gemeinsamen Expertise eine Grundlage dafür zu schaffen, dass wissenschaftliche Erkenntnis und universitäre Wissensproduktion zur internationalen Politik und zum Nahostkonflikt anerkannt und in Zukunft nicht mehr verdrängt werden.
Aufgrund begrenzter Sitzplätze ist eine Teilnahme nur nach Anmeldung möglich, hierfür bitte an die Organisator:innen wenden.
Organisatorinnen
Prof. Dr. Sophia Hoffmann, Universität Erfurt, sophia.hoffmann@uni-erfurt.de
Dr. Roy Karadag, Universität Bremen, karadag@uni-bremen.de
Ablauf
9:00-9:15 Begrüßung und Vorstellung
9.15-10:15 Deutschland und der Gazakrieg
Antje Wiener (Universität Hamburg)
„Die Rolle nationaler Politik bei der Formulierung und Umsetzung des Völkerrechts: Eine Diskussion anhand des Beispiels einer Normkollision zwischen Staatsräson und Völkerstrafrecht“
Hanna Pfeifer (Universität Hamburg, IFSH)
„Die Verbeidseitigung einseitiger Gewalt: Zur Unmöglichkeit eines israelischen Genozids im deutschen Kriegsdiskurs“
10:30-12:30 Was ist los in/mit den Internationalen Beziehungen in Deutschland?
Jan Busse (Universität der Bundeswehr München)
„Zwischen Universalismus, Partikularismus und Deutungsmacht: Der Beitrag der Area-Studies-Kontroverse zum Verständnis der Haltung der deutschen IB zur Eskalation im Nahen Osten seit dem 7. Oktober 2023“
Sofia Hoffmann (Universität Erfurt)
„Die deutsche IB hat es nie gegeben: Von der Verunmöglichung eines Fachs“
Mariam Salehi (Freie Universität Berlin)
„Überlegungen zur deutschen IB, Begegnungen mit dem Rest der Welt“
Jan Wilkens (Universität Hamburg)
„Gaza als Ende der Normkontestation? Zum Verhältnis von Wissensordnung in den IB, Normdynamiken und der Produktion von globaler Ordnung“
13:30-14:30 Deutsche Universitäten und der Gazakrieg
Lilian Mauthofer (Freie Universität Berlin)
„From the Classroom to the Streets: Palästina-Solidarität und die Versicherheitlichung deutscher Hochschulen“
Ilyas Saliba (CARPO Bonn)
„Zensur und Selbstzensur in den deutschen Sozialwissenschaften nach dem 7. Oktober“
14:45-15:45 Die Internationalen Beziehungen und die Historizität des Nahostkonflikts
Birgit Schäbler (Universität Erfurt)
„Palästina: Was die Nah-Ost-Geschichte beitragen könnte -“
Roy Karadag (Universität Bremen, InIIS)
„Warum die Nahostgeschichte für die deutsche IB bedeutungslos bleibt“
15:45-16:00 Abschluss

