Internationale Tagung der Deutsch-Polnischen Gesellschaft für Philosophie
Erfurt, 4.–6. Juni 2026
Unaufrichtigkeit ist ein kommunes Phänomen, das in einer Reihe von Spielarten vorkommt. Immanuel Kants Anthropologie (AA 07: 332) rechnet sie zur ursprünglichen Anlage des Menschen. Ihre sprachlichen Formen, mit denen Menschen ihre eigenen Gedanken verbergen und anderen Menschen vorsätzlich als wahr hinstellen, was sie selbst für falsch halten, unterscheidet Kant in einer Klimax von der Verstellung über die vorsätzliche Täuschung oder Irreführung bis zur Lüge. Heute spricht man von Bullshit, Irreführung, Lüge und Fake News. Doch obwohl die Unaufrichtigkeit menschenalt sein dürfte und menschenweit etwas so Gewöhnliches ist, sind die Definitionen ihrer Spielarten nach wie vor umstritten. Ebenso verhält es sich mit ihrer moralischen Beurteilung und den Antworten auf die Frage nach ihrer politischen Bedeutung.
Für Kant ist neben Behauptung, Adressierung und Unaufrichtigkeit die Täuschungsabsicht ein Merkmal des Begriffs der Lüge. Erst in jüngerer Zeit wurde die philosophische Welt mehrheitlich davon überzeugt, Letztere von der Liste der Begriffsmerkmale zu nehmen. Denn es gebe relevante Kontexte, in denen alle Beteiligten zwar wissen, dass die Sprecher das Behauptete für falsch halten, und alle wissen, dass alle es wissen. Doch obwohl eine Täuschung unter diesen Bedingungen weder möglich noch beabsichtigt sei, handle es sich um Lügen, nämlich um unverfrorene Lügen (bald-faced lies): Unter Überwachung preist ein Dissident unverhohlen unwahrhaftig die Tugenden des Diktators (Sorensen 2007). Ein in flagranti ertappter Student weist den Betrugsvorwurf zurück, weil er weiß, dass der Dekan nur geständige Betrüger bestraft. Eine mit dem Tod bedrohte Zeugin gibt im Prozess aus Angst zu Protokoll, das verhandelte Gewaltverbrechen nicht beobachtet zu haben, obwohl allen Anwesenden klar ist, dass dies nicht stimmt (Carson 2010). Alle drei Fälle gelten nach der jüngeren Auffassung als Fälle von Lüge, keiner als vorsätzliche Täuschung.
Philosophinnen, die die traditionelle Definition verteidigen, schlagen verschiedene Wege ein. Nach einem ersten Vorschlag sind unverfrorene Lügen keine Versuche, einen für falsch gehaltenen propositionalen Inhalt glauben zu machen, aber betrügerisch, weil sie z.B. eine gerichtliche Verurteilung verhindern (Lackey 2018). Nach einem zweiten Vorschlag sollen auch unverfrorene Lügen täuschen. Allerdings werden sie nicht direkt adressiert, sondern zielen auf die Täuschung institutioneller Hörer. So will der Dissident in Wirklichkeit den Geheimdienst, der Studierende das Prüfungsamt, die Zeugin das Gericht qua Gruppenakteur täuschen (Rudnicki/Odrowąż-Sypniewska 2023). Eine radikalere Verteidigung der traditionellen Definition hält den Ausdruck „bald-faced lie“ für eine Fehlbezeichnung. Denn es handle sich nicht um echte Behauptungen (Keiser 2016). Die Sprecher sagen bloß auf, was im institutionellen Kontext nötig ist, um einen bestimmten Effekt zu ihren Gunsten zu erzielen. Sie äußern es nicht mit behauptender Kraft.
An dieser Stelle zeigt sich eine Nähe zum kommunikativen Akt der sprachlichen Irreführung als einer weiteren Form der Unaufrichtigkeit. Antworten wir Kants Mörder an der Tür, unser Freund sei nicht im Haus, so lügen wir. Antworten wir wahrhaftig, wir hätten ihn soeben noch draußen gesehen, so suchen wir den Mörder, z.B. via konversationelle Implikatur, zu der Annahme zu verleiten, er sei immer noch dort, und unsere epistemischen Verpflichtungen unterscheiden sich von denen des Lügners (Viebahn 2021). Damit stellen sich moralische Fragen. Oft gilt die Irreführung als moralisch weniger schlecht als die Lüge, etwa weil die irregeführte Person für ihre falsche Überzeugung mitverantwortlich sei. Doch scheint die moralische Valenz vom jeweiligen Fall abzuhängen. Bei einem in mörderischer Absicht mit Erdnussöl versetzten Gericht dürfte das den Allergiker irreführende „Es sind keine Erdnüsse drin“ moralisch nicht besser sein als das lügenhafte „Du kannst es getrost essen“ (Saul 2012).
Andere wichtige Phänomene und Spielarten der Unaufrichtigkeit sind in den Blick zu nehmen. Bullshitting gilt nach Harry Frankfurts Analyse als eine unaufrichtige Praxis, die gegenüber der Wahrheit indifferent ist. Gaslighting ist eine manipulative Technik, die mittels vielfacher Formen der Unaufrichtigkeit die epistemische Autonomie seiner Opfer untergräbt. Zunächst an Nahbeziehungen untersucht, ziehen in den letzten Jahren kollektives Gaslighting, faktenleugnende Gegennarrative und Fake News als politische Werkzeuge philosophisches Interesse auf sich (Rietdijk 2021). Als Instrument des Machtgebrauchs und der hybriden Kriegsführung soll die massenmediale Verbreitung inkohärenter Propagandalügen nicht eine bestimmte Unwahrheit glauben machen, sondern die Adressaten an ihrem Realitätssinn zweifeln und an ihrem Urteilsvermögen irrewerden lassen.
Die Erfurter Tagung der Deutsch-Polnischen Gesellschaft für Philosophie zum Thema ‚Lug, Trug und Fake News: Über Formen der Unaufrichtigkeit’ soll Fragen der Moralphilosophie, der politischen Philosophie und Sprachphilosophie sowie der Philosophiegeschichte gewidmet sein. Wie finden wir die richtigen Definientia und Unterscheidungen für Formen der Unaufrichtigkeit? Können Lügen wahr sein? Können alle Kreter immer lügen? Sind bald-faced lies Lügen? Wie funktionieren sprachliche Irreführungen? Ist Bullshitting gegenüber Fakten notwendig indifferent? Ist die kantische Auffassung der Lüge haltbar? Ist Hegels Kritik an ihr gerechtfertigt? Wie soll Unaufrichtigkeit moralisch beurteilt werden? Gibt es eine Pflicht zu lügen? Wann ist Unaufrichtigkeit politisch gerechtfertigt? Wie bedrohen irrationale Gegenerzählungen (big lies) die offene, demokratische Gesellschaft? Wie sollen wir uns zu den gesellschaftlichen und politischen Auswirkungen massenhafter Propagandalügen stellen?
Abstracts von ca. 300 Wörtern für Vorträge von 30 Minuten Länge schicken Sie bitte bis spätestens 1. November 2025 an gina-maria.leusenrink@uni-erfurt.de. Bitte geben Sie in der E-Mail Ihren Namen und Ihre institutionelle Zugehörigkeit an und fügen Sie das Dokument mit dem Abstract ohne Ihre persönlichen Daten als Anhang bei. Kontaktieren Sie bei Rückfragen bitte Prof. Dr. Guido Löhrer (guido.loehrer@uni-erfurt.de).
Einreichungsfrist für Abstracts: 01.11.2025
Ort: Universität Erfurt
Beginn: 04.06.2026, 14:00
Ende: 06.06.2026, 13:00
Veranstaltende Institution: Deutsch-Polnische Gesellschaft für Philosophie
Professur für Praktische Philosophie, Universität Erfurt
Department of Philosophy, Adam Mickiewicz University in Poznań, Poland