Im 19. Jahrhundert nahm das europäische Interesse an Japan in wissenschaftlicher, ökonomischer und künstlerischer Hinsicht deutlich zu. Auf wirtschaftlicher Ebene markierten insbesondere die Ungleichen Verträge von 1858 und 1861 zwischen Japan und mehreren europäischen Staaten einen Wendepunkt in den Beziehungen zwischen diesen Gesellschaften. In der vorausgehenden Phase eines limitierten Austauschs (1639–1858) war Japan aus europäischer Perspektive nur begrenzt erforschbar. In den Jahrzehnten nach Abschluss der Verträge bereisten Forschungsreisende, Diplomaten und Geologen das Land, um dessen Gesellschaft, Sprache und Ökonomie zu studieren. Diese Entwicklungen lösten in Japan tiefgreifende politische, gesellschaftliche und kulturelle Umwälzungen aus, die das Land nachhaltig prägten.
Vor diesem Hintergrund und getrieben von den beruflichen sowie privaten Interessen an Japan begann der Kartograph Bruno Hassenstein in der thüringischen Residenzstadt Gotha damit, Japan zu kartieren. Zwischen 1879 und 1887 entstanden vor allem einzelne Kartenblätter, die die heutige Region Tōkyō und den Berg Fuji abbildeten. Auch fertigte er einen topographischen Atlas von Japan an, für den er ein eigenes Umschriftensystem entwickelte. Diese Arbeiten entstanden im Rahmen seiner Tätigkeit bei einem der führenden europäischen Kartenverlage des 19. Jahrhunderts: Justus Perthes in Gotha. Für seine Arbeit stützte sich Hassenstein auf ein weitreichendes Netzwerk aus europäischen Forschungsreisenden, Japanforschern, Diplomaten, Geographen, Kontraktausländern sowie japanischen Austauschstudierenden und Gesandten. Dieses Netzwerk versorgte ihn mit europäischen und japanischen Kartenmaterialien, unterstützte ihn bei der Übersetzung der japanischen Nomenklatur und tauschte sich mit ihm über das Umschriftensystem des Atlasses aus.
Bislang hat eine kritische Auseinandersetzung mit Bruno Hassensteins Japanwerk in der historischen Forschung nicht stattgefunden. Das ist umso verwunderlicher, da sein umfangreicher Arbeitsnachlass in der Sammlung Perthes weitgehend überliefert ist. Neben den veröffentlichten Karten und dem Atlas sind es vor allem Briefe, Arbeitsnotizen, Reiseberichte, Kartenskizzen und japanische Karten, die einen tiefen Einblick in die Arbeitsweise des Gothaer Kartographen ermöglichen. Anhand dieses vielschichtigen Quellenmaterials untersucht das Dissertationsprojekt, wie Hassensteins Japan entsteht. Im Zentrum der Promotion stehen dabei nicht nur die Karten und ihre Entstehung, sondern auch die daran beteiligten Akteure aus Europa und Japan. Dabei drängen sich zentrale Fragen auf: Wie zirkulierten japanische Karten zwischen Europa und Japan? Und: Wie wurde innerhalb des transnationalen Netzwerks ausgehandelt, was als gültiges geographisches Wissen über Japan galt? Methodisch verortet sich die Arbeit in Ansätzen der Globalgeschichte, der Wissensgeschichte und der Critical Cartography. Diese Perspektiven ermöglichen es, sowohl die Kooperationen zwischen den Akteuren als auch die politischen und ökonomischen Rahmenbedingungen der kartographischen Wissensproduktion zu analysieren. Ziel der Arbeit ist es, herauszuarbeiten, wie europäische Japanforscher und Kartographen an Hassensteins Japanwerk zusammenarbeiteten und wie sich in diesem Prozess koloniales, wissenschaftliches sowie ökonomisches Wissen in Hassensteins Japanwerk einschrieben.
Bild: 秋山永年墨仙[作図] / 船橋渡 ; 船越守愚[撰], Fujimi Juusanshuu Yochi No Zenzu, Japan: Shūseidō 1843, 155 × 175cm, Forschungsbibliothek Gotha, Sammlung Perthes, SPK 30.15.b.06 C (01), Bl. 8.