Wie haben Menschen im Mittelalter Glasmalereien gesehen? Wer hatte Zugang, sie zu sehen? Wie haben sich Sichtweisen historisch verändert? Wie kann man digitale Medien nutzen, um die oft in großer Höhe angebrachten Kunstwerke, die noch heute viele Menschen faszinieren, für eine breite Öffentlichkeit rezipierbar zu machen? Diese und viele weitere Fragen werden unter dem Generalthema „Sichtbarkeit“ auf einer internationalen Fachkonferenz diskutiert, zu der das deutsche Corpus Vitrearum Medii Aevi (CVMA) im Juli nach Erfurt und Naumburg einlädt. Das Corpus Vitrearum mit derzeit 14 aktiven Mitgliedsländern wurde als internationales Projekt 1952 unter dem Eindruck der Zerstörungen der Weltkriege gegründet und widmet sich seither der Erforschung und Erhaltung von Glasmalereien als zentralem Kulturerbe des europäischen Mittelalters.
Eröffnet wird die Fachkonferenz von Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Christoph Markschies, Präsident der Union der deutschen Akademien der Wissenschaften und der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften: „Man steht als Laie überwältigt vor der bunten Farbsymphonie mittelalterlicher Glasfenster, wie sie sich in Kirchen finden, die das CVMA bearbeitet. Nach einer Weile kommt zur Überwältigung die Neugier wissen zu wollen, was auf den bunten Scheiben dargestellt ist und warum es da abgebildet ist. Natürlich werden die Wenigsten, die sich das fragen, sofort die großartigen Bände des Corpus zur Hand haben, aber die berühmten kleinen Broschüren, größeren Kirchenführer und mündlichen Erläuterungen vor Ort gelingen ja nur auf Grundlage dieser Arbeiten. Ein Glück, dass man viele der Fenster auch über das Online-Angebot des CVMA betrachten kann. Und Manche lesen hinterher auch dann, wenn sie keinen kleinen Kunstführer über das Gebäude mit den Fenstern schreiben wollen, die herrlichen Bände des CVMA. Ich gehöre dazu.“
Das Generalthema der Tagung umfasst neben kunsthistorischen Aspekten auch technologische und konservatorisch-restauratorische Kernfragen. Diese betreffen die Untersuchung materialtechnischer Innovationen ebenso wie etwa die Frage, wie fragmentarisch erhaltene Glasmalereien so wiederherzustellen sind, dass sie ihr historisches Erscheinungsbild bewahren und zugleich ihre ursprüngliche Qualität wieder wahrnehmbar wird. Die – sehr aktuellen – politischen Dimensionen des Themas „Sichtbarkeit“ von kulturellem Erbe zeigen Vorträge über die Glasmalereien in der Ukraine und über den Umgang mit Verglasungen aus der Kolonialzeit in Shanghai.
Zentraler Tagungsort ist – in Kooperation mit der Universität und der Hohen Domkirche St. Marien – das Erfurter Domareal. Ein Konferenz- und Exkursionstag führt zudem nach Naumburg. Beide Städte verfügen über ein besonders herausragendes Erbe an mittelalterlichen Glasmalereien und stehen exemplarisch für beispielgebende Restaurierungsanstrengungen in den letzten Jahren. Gerade die jüngst abgeschlossene Restaurierung der Glasmalereien des Naumburger Doms, an der die Potsdamer Arbeitsstelle des CVMA beteiligt war, sowie die laufende Restaurierung der bedeutenden Erfurter Domchorfenster sind hier zu nennen.