Von Altkarten und "objektiven" Karten

von Leif Scheuermann

Eine zentrale Quelle zur historischen Stadtentwicklung und Raum-Ordnung stellen ohne Zweifel die Altkarten dar. Im Folgenden soll eine kurze Einführung in die computerbasierte Analyse dieser oft als nicht exakt charakterisierten Quellen gegeben werden.  Im Focus steht hierbei das methodische Vorgehen. Das im Folgenden genutzte Fallbeispiel - der „Pla de la Cuitát de Barcelona, y sos Contórns en lo Añy 1740“ des Architekten Francesc Renart Closas - ist nur eines von vielen, doch lassen sich an ihm gut die analytischen Verfahren erläutern. 

Eine theoretische Annäherung

Mit Einführung der großen webbasierten kartographischen Systeme wie beispielsweise Google-Maps scheint das Ideal einer geographisch exakten "objektiven" Karte verwirklicht. Der Nutzer kann sich jeder Zeit durch das Umschalten auf die Satellitenbildansicht davon überzeugen, dass die kartographische Darstellung mit der "objektiven Realität" übereinstimmt und somit unwiderlegbar "wahr" ist.  Demgegenüber erscheinen Altkarten als "unscharf", "unvollständig" oder gar "falsch", da sie sich nicht ohne Weiteres mit Satellitenaufnahmen in Deckung bringen lassen.

Dieser weitläufig akzeptierten Ansicht wäre zuzustimmen, könnte man die Raumwahrnehmung als rein sensorischen Prozess der Perzeption eines euklidischen Raums verstehen. Doch nicht erst seit Kevin Lynchs "Image of the City" sollte klar sein, dass Raumwahrnehmung mehr als Perzeption ist, nämlich ein Prozess, "der zwischen Beobachter und seiner Umwelt stattfindet. Die Umgebung bietet Unterscheidung und Beziehung, und der Beobachter wählt und fügt mit großer Anpassungsfähigkeit zusammen und gibt dem, was er sieht, eine Bedeutung." [Lynch 1965, S.16]. Wahrgenommener Raum ist also immer eine Bricolage aus Raumobjekten deren Auswahl und Beziehung zueinander durch die sensorische Perzeption, aber auch durch die persönliche Erfahrung des Betrachters und einem intersubjektiven kulturellen Gedächtnis geprägt ist. Ein solcher Raumbegriff spiegelt sich nicht - oder nur mehr sehr reduziert in der Farbgestaltung und Auswahl der Symbole - in den modernen webbasierten karthographischen Systemen wieder. Die Erhöhung der geographischen Exaktheit kann also auch als Reduktion des Informationsgehaltes der Karten verstanden werden, oder umgekehrt, die angebliche "Unschärfe" oder "Unvollständigkeit" ist Ausdruck eines Produktionsprozesses vom Raum und somit eine zentrale Quelle für ein historisches Verständnis von Räumen. 

Georeferenzierung als Analyse

Es stellt sich nun die Frage, wie man diesen zusätzlichen Quellenwert der Altkarten analytisch mit Hilfe moderner Geoinformationssytsme erschließen kann. Hierbei fungiert die geographisch exakte Karte als Folie, auf welcher die Abweichungen zutage treten.  Um dies zu erreichen muss jedoch in einem ersten Schritt die Altkarte der Projektion der modernen Karte via Koordinatentransformation angenähert werden. Hierbei werden jedem Bildpunkt der eingescannten Karte über Drehung, Scherung und Skalierung geographische Koordinaten zugeordnet, was wiederum zu einer Verzerrung des Bildes führt. Im Fallbeispiel (Siehe Abb. 1) wurden 156 Punkten der Altkarte  Geokoordinaten zugeordnet und dann der gesamte „Plan de la Ciuitát de Barcelona“ über eine Lineartransformation georeferenziert (Siehe Abb. 2). Schon die Darstellung der Abweichungen (Abb. 1) gibt einen ersten Aufschluss über die Unschärfe der Altkarte. Generell ist für den „Pla de la Cuitát de Barcelona“ eine im Vergleich zu anderen Altkarten recht hohe  geographische Exaktheit zu konstatieren. Eine  Ausnahme bildet hierbei der Hafenbereich. Zum einen mag dies teilweise den fehlenden Referenzmöglichkeiten und somit einem gröberen Transformationsnetz geschuldet sein, doch ist greift diese Argumentation zu kurz, da die Referenzpunkte selbst sehr exakt bestimmt werden konnten. Ferner war die äußere Hafenanlage nur durch eine Straße erreichbar war, was eine exakte Lokalisierung erschwert hat. Doch ist letzten Endes festzuhalten, dass die genaue Gestalt des Hafens und seine exakte geographische Verortung nicht im Focus des Erstellers der Karte standen. Für die Wahrnehmung des Hafens zentral erscheinen die mit Großbuchstaben (D-G) gekennzeichneten Befestigungsanlagen, nicht aber deren genaues Verhältnis zur Stadt.

Digitalisierung als Analyse

Um die prima vista festgestellte geographische Exaktheit näher zu untersuchen wurde die georeferenzierte Karte in einem zweiten Schritt digitalisiert, d.h. sämtliche Gebäude innerhalb der Stadtmauern wurden in Vektordaten umgewandelt (Abb. 3). Es zeigt sich hier, dass trotz der geringen Abweichungen, die Grundrisse der Gebäude nicht mehr mit dem modernen Plan übereinstimmen. Dies ist bei historischen Gebäuden ebenso der Fall, wie bei Straßenverläufen und Plätzen (siehe Abb. 4 & 5).  Die Altkarte lässt sich also nicht exakt mit der modernen Karte abbilden, nicht nur aufgrund der Stadtentwicklung, sondern eben auch in Bereichen, wie der Kathedrale,  in denen es keine Veränderungen gab.

Die nähere Untersuchung dieser Unterschiede sollen im Folgenden kurz in zwei Beispielfällen den Mehrwert der Altkarte näher beleuchten. 

Betrachtet man die Renart-Karte so ist eines ihrer auffälligsten Merkmale, die sehr stark strukturierten Rück- bzw. Innenseiten der Gebäude. Abbildung 6 zeigt hierzu einen Vergleich mit Alaberns „Plano de Barcelona“ von 1858 und dem entsprechenden Ausschnitt in Google Maps. Es zeigt sich, dass eine stärkere Abstraktion, welche zur Verfeinerung der Exaktheit einhergeht, zur Reduktion solcher Strukturen führt. Zieht man jedoch Satelliten- bzw. Luftbildaufnahmen (siehe Abb. 7) hinzu, so zeigt in diesen wiederum die Strukturierung. Es lässt sich also konstatieren, dass der Ersteller der Karte zwar den Grundriss der Gebäude selbst nicht exakt wiedergibt, stattdessen jedoch ein Element seiner Wahrnehmung, welches bis auf den heutigen Tag im Stadtbild ablesbar ist. 

Ein weiteres Beispiel für diese Qualität ist Renarts die Darstellung der Kirche Saint Pau Del Camp. Die im 12. Jahrhundert entstandene Klosteranlage besteht hier aus einem Rechteck, welches in seiner Mitte ein dunkler gefärbtes Kreuz enthält (siehe Abbildung 8). Letzteres kann nicht als Symbol für die Funktion als Kirche interpretiert werden, da die übrigen Sakralbauten auf der Karte keine solche Kennzeichnung tragen. Vielmehr charakterisiert es die wahrgenommene Gestalt des Kirchenbaus. Vergleicht man die Darstellung mit einer modernen Karte (siehe Abbildung 8), so zeigen sich kaum Übereinstimmungen mit dem Grundriss der Kirche. Grund hierfür ist der direkte Anbau an den Kreuzgang sowie die den Chor abschließenden Apsiden, welche jedoch architektonisch in den Hintergrund treten, so dass in der Wahrnehmung der Kirche die Kreuzform wieder deutlich zu Tage tritt (siehe Abbildung 9 & 10).

Resümierend zeigt sich also, dass die Altkarte zwar nicht die Exaktheit einer modernen Karte aufweisen kann. Stattdessen beinhaltet sie jedoch Elemente der Wahrnehmung des Erstellers, welche sich so nicht oder nur sehr bedingt in exakten Karten abbilden lassen. Hier Stelle konnte dies nur ansatzweise exemplarisch aufgezeigt werden, doch verspricht eine detaillierte computerbasierte Analyse dieser Quellen unter Einbeziehung unterschiedlicher zeitlich differenzierter Altkarten einen Einblick nicht nur in die Stadtentwicklung sondern hinaus auch in den Wandel der Wahrnehmung.

Bibliographie

  • Kevin Lynch: Das Bild der Stadt, übers. von Henni Korssakoff-Schröder und Richard Michael (Bauwelt-Fundamente 16), Berlin u.a. 1965.

Kartengrundlage

  • R. Alabern, Plano de Barcelona, 1858 (© Institut Cartogràfic de Catalunya)
  • F. Renart Closas, Pla de la Cuitát de Barcelona, y sos Contórns en lo Añy 1740 (© Institut Cartogràfic de Catalunya)

Moderne Karten:
Bing maps: http://www.bing.com/maps/?mkt=de-de
Google maps: https://maps.google.com/
Open Streetmap: http://www.openstreetmap.org  

Kontakt

Dr. Leif Scheuermann hat zum 1.3.2014 an die Universität Graz gewechselt. 

Anschrift

Dr. Leif Scheuermann
Institut für Alte Geschichte und Altertumskunde
Universitätsplatz 3/II
8010 Graz 
Österreich

Abbildung 1: Abweichungen Renart – Geokoordinaten
Abbildung 2: Renart georeferenziert
Abbildung 3: Digitalisierung der Renart-Karte
Abbildung 4: Renart-Digitalisat auf der Google-Streetmaps Oberfläche
Abbildung 5: Renart-Digitalisat auf der Google-Streetmaps Oberfläche – Detailansicht
Abbildung 6: Detailvergleich Renart 1740 - Alabern 1858 - Google maps
Abbildung 7: Detailvergleich Renart 1740 - Alabern 1858 - Google maps (Kartenansicht) Bingmaps (Vogelperspektive & Satellitenbild)
Abbildung 8: St. Pau del Camp - Renart - Digitalisat - Open Streetmap
Abbildung 9: St.Pau del Camp Renart - Model [Wikipedia]
Abbildung 10: St.Pau del Camp in Bing Maps (Vogelperspektive)