Kritik und Aufklärung

// Sergey Sistiaga – 13.05.2020

Frontispiz der Encyclopédie von Benoît Louis Prévost (gemeinfrei)

Ein gutes Vierteljahrtausend nach dem Erscheinen des 4. Bandes der Encyclopédie kann uns ein Blick in dieses Monumentalwerk der Aufklärung durchaus als Spiegel für unsere Gegenwart dienen. Gerade heute, wo öffentliche wie private, aber teils auch wissenschaftliche Diskussionen über Inhalte oftmals einen schweren Stand haben, wenn sie überhaupt erst zustande kommen.

Unten folgendes Zitat samt Übersetzung übernehmen wir aus Marina Garcés’ 2019 beim Verlag Turia + Kant in Wien und Berlin erschienenem Büchlein Neue radikale Aufklärung. Die Übersetzung aus dem Katalanischen besorgte Charlotte Frei.

Allein, dass heute noch Plädoyers für die Aufklärung geschrieben werden müssen, zeigt, dass Aufklärung kein reines Epochenmerkmal sein kann und verrät etwas über gegenwärtige Zustände. Zustände, in denen vielerorts bereits der Zweifel als solcher verschmäht oder gar diffamiert wird, anstatt als Ausgangsbedingung von Aufklärung, Wissenschaft und Journalismus methodisch kultiviert zu werden.

Das Zitierte aus dem von Voltaire hoch gepriesenem Artikel Critique (Belles-lettres) von Jean-François Marmontel, der anders als unser Zeitgenosse Julian Assange nur 11 Tage in der Bastille nächtigte, sei nun dem zweifelnden Leser zur Prüfung dargelegt:

„Die Leichtgläubigkeit ist das Los der Ungebildeten; der überzeugte Glaube das der Halbgebildeten; der methodische Zweifel das der Weisen.“

Portrait von Jean-François Marmontel (1723–1799) aus dem Jahr 1767 (gemeinfrei)

Der originale Wortlaut ist der folgende zusätzlich des anschließenden Erläuterungssatzes, der besagt, dass ein Philosoph, menschliche Kenntnisse betreffend, beweist, was er kann, glaubt, was ihm bewiesen wurde; ablehnt, was ihn abstößt und sein Urteil über den Rest aussetzt.

„La crédulité est le partage des ignorans ; l’incrédulité décidée, celui des demi-sçavans ; le doute méthodique, celui des sages. Dans les connoissances humaines, un philosophe démontre ce qu’il peut ; croit ce qui lui est démontré ; rejette ce qui y répugne, & suspend son jugement sur tout le reste.“[1]

Giorgio Agamben, um den Bogen zur Gegenwart zurück zu spannen, sieht gar den alten die Aufklärung prägenden Konflikt zwischen Philosophie und Religion in neuer Konfiguration aufflammen. Diesmal allerdings mit einer Religion der Wissenschaft unter dem Banner der Medizin. Agamben ahnt Düsteres und konstatiert das Heute betreffend eine Behinderung der Zirkulation des freien und wahrheitssuchenden Wortes unter dem Vorwand sogenannter fake news.[2] Er sieht Philosophen verleumdende „Ignoranten“ und eine „Kanaille“ ihr Unwerk treiben, die von den selbst provozierten Notständen profitiere.[3]

Wo Aufklärung ist, darf freilich Gegenaufklärung und Tyrannei nicht fehlen. Den wahren Philosophen winken in solchen Zeiten der Verleumdung nicht nur Schmach und Schierlingsbecher, Bastille und Berufsverbot, sondern auch Renaissance und Ruhm ihrer ureigensten Aufgabe: Der Macht und der Ignoranz das wahre Wort entgegenzuhalten.

Michel Foucault summierte dieses Ethos unter dem Begriff der Parrhesia:

„More precisely, parrhesia is a verbal activity in which a speaker expresses his personal relationship to truth, and risks his life because he recognizes truth-telling as a duty to improve or help other people (as well as himself). In parrhesia, the speaker uses his freedom and chooses frankness instead of persuasion, truth instead of falsehood or silence, the risk of death instead of life and security, criticism instead of flattery, and moral duty instead of self-interest and moral apathy.”[4]

Gute Philosophen waren bei der Mehrheit stets unbeliebt. Das weiß man spätestens seit Sokrates, der es sich zur Aufgabe machte seine zur Trägheit neigende athenische Polis als lästige Pferdebremse auf Trab zu halten.[5] Die Rolle ihrer prekären Position im Gefüge einer hierarchischen und arbeitsteiligen Gesellschaft aber verlangt diesen Preis, der stets auch Prüfstein ist. Eine wirklich freie Gesellschaft würde man unter Umständen am Fehlen von über Freiheit philosophierenden Philosophen erkennen können.

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[1] Article Critique, (Belles-lettres.), Encyclopédie ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers (1751-1772), vol. IV (1754), p. 490a–497b, p. 491a.

[2] Dass die Bezeichnung fake news nichts mehr als ein allseitig verwendeter politischer Kampfbegriff ist, zeigt die Tatsache, dass er auch auf den Staat selbst zurückfällt, der diesen Begriff vor allem für seine Informationskampagnen instrumentalisiert. So heißt es im an das Magazin Tichys Einblick durchgestecktem Bericht des „Referats KM 4: Schutz Kritischer Infrastrukturen“ des Innenministeriums des Bundes zur Corona-Politik von dem auch die Nachdenkseiten berichten: „Die Defizite und Fehlleistungen im Krisenmanagement haben in der Konsequenz zu einer Vermittlung von nicht stichhaltigen Informationen geführt und damit eine Desinformation der Bevölkerung ausgelöst. (Ein Vorwurf könnte lauten: Der Staat hat sich in der Coronakrise als einer der größten fake-news-Produzenten erwiesen.) [Hervorhebung von uns].“

[3] Giorgo Agamben, „La medicina come religione“in: Quodlibet (2. Mai 2020): „Come in tutti i momenti di emergenza, vera o simulata, si vedranno nuovamente gli ignoranti calunniare i filosofi e le canaglie cercare di trarre profitto dalle sciagure che esse stesse hanno provocato.“ 

Hier in französischer Übersetzung.

[4] Foucault, Michel. “Discourse and Truth: the Problematization of Parrhesia.” 6 lectures at University of California at Berkeley, CA, Oct-Nov. 1983.

[5] Hier sei diesbezüglich die berühmte Stelle aus Platons Apologie in Schleiermachers Übersetzung wiedergegeben (Apologie 30e): „Daher ich auch jetzt, ihr Athener, weit davon entfernt bin, um meiner selbst willen mich zu verteidigen, wie einer wohl denken könnte, sondern um euretwillen, damit ihr nicht gegen des Gottes Gabe an euch etwas sündiget durch meine Verurteilung.  Denn  wenn  ihr  mich  hinrichtet,  werdet ihr nicht leicht einen andern solchen finden, der ordentlich, sollte es auch lächerlich gesagt scheinen, von dem Gotte der Stadt beigegeben ist, wie  einem  großen  und  edlen  Rosse,  das  aber  eben  seiner  Größe  wegen  sich  zur  Trägheit  neigt  und  der  Anreizung  durch  den  Sporn  bedarf,  wie  mich der Gott dem Staat als einen solchen zugelegt zu haben scheint, der ich  euch  einzeln  anzuregen,  zu  überreden  und  zu  verweisen  den  ganzen  Tag  nicht  aufhöre,  überall  euch  anliegend.“