There‘s none to lead but reason to point the morning and the evening ways

// Sergey Sistiaga – 27.11.2019

zerstörte Büste von Abu l-’Ala al-Ma’arri

Abu l-’Ala al-Ma’arri (* 973 in Ma'arra; † 1057 in Ma'arra), ein berühmter Philosoph und Dichter aus der Nähe Aleppos, der ein mit Dante vergleichbares Werk verfasste, schrieb vor mehr als tausend Jahren folgende Zeilen:

You've had your way a long, long time,
You kings and tyrants,
And still you work injustice hour by hour.
What ails you that do not tread a path of glory?
A man may take the field, although he love the bower.

But some hope a divine leader with prophetic voice
Will rise amid the gazing silent ranks.
An idle thought! There's none to lead but reason,
To point the morning and the evening ways
[1]

Sein ausgesprochener Pessimismus wurde post mortem bestätigt als Fanatiker im Jahr 2013 seine Büste in seinem Geburtsort nahe Aleppo enthaupteten.[2] Die laut eigenen Angaben direkt von den USA zum Zwecke des völkerrechtswidrigen Versuchs, die syrische Regierung zu stürzen, unterstützten Terroristen der al-Nusra-Front[3] köpften seine Büste.

Im Morgenland und Abendland, im Osten wie im Westen, sei es einzig an der Vernunft, so der ikonoklastisch hingerichtete al-Ma’arri, den Weg zu weisen. Wie der Proletarier kein Vaterland hat, so hat auch die Vernunft kein Zuhause. Jeder Mensch, so wollen es die Philosophen, ist als Mensch vernunftbegabt, sie ist das den Menschen ausmachende, ist also universell und nicht an partikuläre Zivilisationen, Nationen, „Rassen“ (die es nicht gibt), Klassen oder Identitäten gebunden. Sie kann überall, aber auch nirgendwo angewandt werden. Weder ist der Osten, wie so manch hässliches altes chauvinistisches Klischee will, unfähig zu Vernunft und Aufklärung, noch sind selbige dem Westen per se ins Erbgut geschrieben. Die Gegenaufklärung ist auch ein Kind des Westens.

Stattdessen hat die Vernunft stets für Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden zu kämpfen, egal wo, egal wann, denn Könige und Tyrannen wie falsche Propheten arbeiten wie eh und je Stund für Stund an ihrer Macht und bringen Ungerechtigkeit und Unfreiheit über die Welt: im Osten wie im Westen.

Aufklärung und Gegenaufklärung ringen in beständiger Auseinandersetzung. Die hinsichtlich zivilisatorischem und moralischem Fortschritt bei manchen Denkern oft überoptimistische Stufen- und Entwicklungsmetapher hat sich spätestens mit der Dialektik von Revolution und Konterrevolution, die seit 1789 die Geschichte des Westens prägt, in dieser Einfachheit als irrig erwiesen. Das zeigen par excellence die aus dem irrationalistischen Ungeist der Gegenaufklärung geborenen fanatischen Ideologeme des Faschismus und Rassismus. Die naive Idee, dass mit der historischen Aufklärung eine irreversible Entwicklungsstufe erreicht wurde, hinter die es keinen Rückfall geben könne, ist freilich auch im Westen obsolet. Die Entwicklung seit 1989 zeigt, dass der Westen selbst davor nicht gefeit ist. Der illegale Angriffskrieg 1999 auf Jugoslawien mag dies illustrieren. Auch die Entwicklung nach 2001 hält freilich wenig Beispiele gegen den moralisch-zivilisatorischen Verfall des Westens bereit.[4]

Aufklärung ist in jeder Generation wie für jeden Menschen im Rahmen einer gesellschaftlichen Öffentlichkeit immerfort im wechselseitigen Gespräch neu zu vollziehen. Aufklärung ist Arbeit, kein Himmelsgeschenk. Die Enthauptung von al-Ma’arris Büste gemahnt uns dessen.

Könige und Tyrannen hatten damals wie heute einen langen Weg hinter sich, die Vernunft inzwischen auch. Die Frage stellt sich heute wie damals: welchen Weg hat die Vernunft vor sich?