The Titanic pictured in Cobh Harbour, 11 april 1912

Fortschritt, Frieden, Freiheit

// Sebastian Kunze – 04.01.2021

 

Technischer Fortschritt begleitet die menschliche Geschichte seit ihrem Beginn. Wir entwickelten uns technologisch fort. Mit der Aufklärung und dem Beginn der Moderne explodierte der technische Fortschritt. Mit den sich verbessernden Lebensumständen für einen immer größer werdenden Teil der Bevölkerungen im Westen begann der Glaube daran, dass technologischer Fortschritt die Probleme der Gesellschaften lösen könnte. Diese Vorstellung pflanzte sich besonders im 20. und 21. Jahrhundert fort und kulminiert momentan in den quasi-religiöse Verehrungen von Menschen wie Steve Jobs, Elon Musk und anderen.

Der Westen zeichnet sich durch den Glauben an einen stetigen Fortschritt aus und dieser Fortschritt bedeutet immer etwas Positives, er ist heute zu eine quasi-religiösen Erlösungsmacht geworden. Dabei werden die Kehrseiten dieser Entwicklungen gerne verdrängt. Die Digitalisierung wird als Lösung der Klimakrise gefeiert, ohne den Energiehunger der Datenzentren im Auge zu behalten. Früher schielte man auf die positiven Seiten der Atomkraft, ohne deren negativen wahrhaben zu wollen.

Das positive Potential von Technologie thematisierte 1912 auch Gustav Landauer (1870–1919) anlässlich der Katastrophe des Untergangs der Titanic. Landauer, ein jüdisch-deutscher Anarchist und Kulturkritiker, sah in der Tat die positiven Seiten der drahtlosen Telegraphie, beispielsweise, um Hilfe zu Rufen. Doch hat er die negativen Seiten des technischen Fortschritts immer vor Augen. Es gibt für Landauer das eine nicht ohne das andere. Vor allem ist ihm aber klar, dass bloße Technologieentwicklungen die Menschheit weder retten, noch dabei helfen, die bestehenden Verhältnisse in einer sozialen Revolution zu verändern und gerechter zu gestalten. Im Folgenden sind einige Fundstücke aus Landauers Artikel Die Botschaft der Titanic (1912) dokumentiert:

 

„Dies ist nicht der Ort, hier ist nicht meine Absicht, über die Ursachen zu sprechen, die zu der namenlosen Katastrophe der ‚Titanic‘ bei ihrer ersten Ausfahrt geführt haben. Nicht auf den Missbrauch der Kraft und der Technik um der Konkurrenz und des Rekord willen soll hier der Blick gelenkt werden.“

„Lautlos flog der Hilfeschrei der ‚Titanic‘ in die Welt. In die Welt, man dachte es wohl, um das Bild zu erleben, wie es ist: nicht einem bestimmten Ziel zu, nicht an bestimmte befreundete oder durch Gegenseitig verpflichtete Menschen haben sich die Führer der ‚Titanic‘ gewandt, sondern sie sandten ihre Botschaft in den Äther, der rings um den Erdball, der in Lüften und allen Dingen wallt. Überall, wo der stumme Ruf eintraf, fuhr er den Fremden in die Glieder, und eilends kamen aus weiter Ferne die Schiffe herbei, um die auf offenem Meer Gestrandeten zu retten.“

„Wir sind so hilfsbereit bei elementarem Unglück, warum sind wir denn so wenig bereit, zu helfen und Schäden abzustellen, wenn es sich um das Leid handelt, das Menschen einander antun? Warum vor allem sind wir so gefühllos oder geistlos, daß wir die wundervollen Techniken, die wir erfunden haben, um Arbeit zu sparen oder Arbeit zu erleichtern, in ein System einordnen, in dem jede Arbeitsersparnis sich in Arbeitslosigkeit und ihre gräßlichen Folgen,  […] verwandelt? Warum sind wir in der Technik Meister und in der Ökonomie hilflose Pfuscher?“

„Wollen wir nicht, so wie Voltaire den Optimismus aus Anlass einer elementaren Katastrophe revidierte, die Lässigkeit und den Schlendrian und die Kraftlosigkeit, die Kräftevergeudung und den Kräftemissbrauch ernstlich prüfend betrachten, den wir selber begehen? Wollen wir es nicht in diesem Augenblick tun, wo der lautlose Notschrei der ‚Titanic‘ noch im Äther zittert und den fernsten Gestirnen eine Botschaft zuträgt, die sie nicht verstehen, die wir aber verstehen sollten? Die Botschaft von der verbindenden, heilenden. Und lebensfördernden Kraft unsres Geistes?“

„Die Philosophen lehren uns, daß alles, was wir Stoffe nennen, besser zu deuten ist als eine Art Bewegung, Kraft oder Beziehung. Jedenfalls ist sicher, daß es eine Menge ‚Dinge‘ gibt, die unsere Sprache zwar so hinspricht, als ob es Dinge, materielle Gegenstände wären, wo aber jede schlichte Besinnung jedem sagt, daß es Beziehungen sind. Die Zustände oder Verhältnisse in unserm privaten, politischen, sozialen und wirtschaftlichen Leben sind solche Beziehungen; die ‚Verhältnisse‘ sagen wir und benehmen uns, als wären das starre, auferlegte Lasten, Schicksalsdinge, die unabwendbar wären wie ein Stern, der vom Himmel fällt, oder die Erde, die unter unserm Füßen wankt; in Wahrheit sind die Verhältnisse ein bequemes Wort für die Art, wie wir uns zu einander verhalten, und um es uns noch bequemer zu machen, nehmen wir manchmal Frageworte zu Hilfe, die uns noch besser dienen, den Ursprung der Substanzworte aus Bewegungsworten zu verdecken, und reden z.B. vom Staat, ohne daran zu denken, daß auch dieses Wort nichts anderes bezeichnet, als einen bestimmten Zustand öffentlich-rechtlicher Natur, in dem wir mit unserm Willen verharren.“

„Unsre Technik ist uns über den Kopf gewachsen, ganz wörtlich: es steckt nämlich viel mehr Verstand und Verständigung in diesen Erfindungen und Einrichtungen, als unsere Köpfe noch wissen.“

„Das alles sofort zu erfahren, hat der Geist der Menschheit Mittel geschaffen. Das Mittel, es alles sofort zu verhindern, hat er von je. Dazu brauchen wir nichts Kunstreiches zu erfinden; wir müssen nur wiederfinden, was unverlierbar in uns ist, was wir selber sind: das Band und das wahrhafte Leben des Geistes. Unrecht leben ist unrichtig leben, verkehrt leben ist den Tod leben. Daß wir tapfer und herzhaft daran gehen, das Leben zu leben, das Leben der Menschheit, dazu sei uns ein Wink die Botschaft der ‚Titanic‘.“

 

Gustav Landauer: „Die Botschaft der ‚Titanic‘“ in: Frankfurter Zeitung, 21.4.1912.