| Katholisch-Theologische Fakultät

Ethische Fragen bei der Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen in Karlsruhe: Myriam Wijlens berichtet

Zurzeit findet in Karlsruhe die 11. Vollversammlung des Ökumenischen Rats der Kirchen statt. Die Erfurter Theologin Prof. Dr. Myriam Wijlens ist Delegierte des Vatikans. Sie berichtet im Interview über die von ihr moderierte Arbeitsgruppe „Kirchen und moralisch-ethische Urteilsbildung“.

Prof. Dr. Myriam Wijlens ist seit 2008 als Delegierte des Vatikanischen Dikasteriums für die Einheit der Christen Mitglied der Kommission für Glauben und Kirchenverfassung des Ökumenischen Rats der Kirchen. Seit 2015 moderiert sie zudem dessen Studiengruppe „Kirchen und moralisch-ethische Urteilsbildung“. Diese nimmt die Spannungen in und zwischen den Kirchen bezüglich ethischer Fragen in den Blick. Bereits drei Dokumente wurden veröffentlicht, darunter „Dialog fördern, um Koinonia zu stärken“.  Im Rahmen der aktuell stattfindenden Vollversammlung des Ökumenischen Rats der Kirchen leitet sie eine Arbeitsgruppe, die die bisherigen Ergebnisse diskutiert und nächste Schritte empfiehlt. Wir haben mit Prof. Wijlens darüber gesprochen.

Prof. Wijlens, warum ist das Thema dieses Studiendokuments heute besonders relevant?

Weltweit erleben die Kirchen sowohl innerhalb als auch zwischen sich, dass ethische Fragestellungen zur Zerreißprobe werden. Da geht es z.B. um Fragen bezüglich Gender und Sexualität, um den Schutz des Lebens am Anfang und Ende, usw. Es stellt sich die Frage, wie können wir Trennungen in den Kirchen verhindern und Einheit zwischen den Kirchen fördern. Seit 2008 arbeitet die Kommission Glauben und Verfassung der Kirchen intensiv an dieser Frage. Es ist extrem schwierig darüber miteinander ins Gespräch zu kommen. Zusammen mit einem Kollegen aus der Orthodoxen Kirche durfte ich die Arbeit moderieren. Wir haben zuerst vierzehn Kirchen eingeladen einen Selbstbericht zu verfassen: Wie kommt meine Kirche im Bereich der Ethik zu einer Entscheidung? Welche Faktoren spielen eine Rolle? Wie verhalten sich z.B. Bibel, Kirchenväter, Konzilien, Ergebnisse aus den Natur- und Sozialwissenschaften zueinander? Alle Kirchen haben die Bibel als Grundlage, aber wieso kommen Kirchen zu verschiedenen Antworten, sei es im Laufe der Geschichte oder zur gleichen Zeit? Oder warum kann man bei einem Thema damit leben, dass es gleichzeitig verschiedene Antworten gibt, und für andere Themen scheint dies ausgeschlossen zu sein. Wir haben studiert, wie es zu Änderungen kommt und welche Faktoren da eine Rolle spielen. Da manche Themen derzeit so emotional beladen sind und ein Dialog deswegen fast nicht möglich ist, wurde entschieden, zu schauen, was wir aus der Geschichte lernen können. Änderungen in ethischen Fragestellungen sind nichts Neues.

Dazu wurden neunzehn Studien, die verschiedene Themen betrafen, in Auftrag gegeben. Die Studien betreffen historische Beispiele, wie z.B. Sklaverei, Wucherzinsen, Apartheit, Themen aus den Bereichen Ehe und Familie sowie dem Verhältnis zwischen Kirche und Staat. Wir haben diesen Studien dann entnommen, dass es sehr verschiedene Änderungsprozesse gibt und dass es oftmals eine persönliche Erfahrung von einer bestimmten Gruppe von Personen ist, welche eine Diskussion über die bisherige Position auslöst. Die Ergebnisse dieser Analyse haben 2021 zum Studiendokument geführt: „Kirchen und moralische Urteilsfindung: Dialog fördern um Koinonia zu stärken.“

https://www.oikoumene.org/de/resources/publications/churches-and-moral-discernment-iii

 

Welchen Beitrag liefert das Dokument für den Dialog über ethische Fragen?

Anhand der historischen Beispiele präsentiert das Dokument zuerst sieben verschiedene Änderungsprozesse.  Manchmal findet eine Änderung von Position A zu B statt. Es kann auch sein, dass man feststellt, dass statt einer, nunmehr verschiedene Antworten gleichzeitig legitim sind oder auch, dass eine Änderung im Nachhinein nicht richtig war. Apartheit illustriert letztere, denn sie wurde eingeführt und sogar biblisch begründet. Aber später stellte man fest, dies war falsch. Interessant war auch, dass wir feststellten, dass die Kirchen sich irgendwann zu einem Thema einig sind, dann ihre Position ändern, und sich darin auch wieder einig sind, die Begründung jedoch für die geänderte Position sehr verschieden sein kann. Wichtig war festzustellen, dass wenn Kirchen eine ethische Position reflektieren, sie dies tun, gerade weil sie Christus treu bleiben wollen. Entwicklungen in der Gesellschaft, Naturwissenschaft usw. führen dazu, sie vor dem Hintergrund der Bibel, der Kirchenväter, der Tradition neu zu reflektieren. Wir haben im Dokument ein Modell entwickelt, wie man über diese Fragestellungen und die verschiedenen Änderungsprozesse konstruktiv miteinander ins Gespräch kommen kann.

Und was wird nun in Karlsruhe diskutiert und wie erleben Sie dies persönlich?

Man merkt, dass die Kirchen im Bereich der ethischen Fragestellungen große Herausforderungen erleben. Dies gilt insbesondere für die Kirchen, die sozusagen weltweit agieren, denn sie erleben in vielen Bereichen eine Ungleichzeitigkeit. Das Dokument wurde deswegen mit hohen Erwartungen entgegengenommen und bereits in Deutsch, Englisch, Spanisch und Französisch veröffentlicht. Übersetzungen in andere Sprachen sind in Arbeit. In Karlsruhe haben wir eine Arbeitsgruppe, die sich das Dokument zu eigen macht und in vier Sitzungen nachgehen soll, welche nächsten Schritte empfohlen werden können. Es ist schon sehr spannend mit Menschen aus allen Kontinenten, aus verschiedenen Generationen und aus so vielen verschiedenen Kirchen gemeinsam nachzugehen, wie über sehr komplexe ethische Fragestellungen konstruktiv ein Dialog geführt werden kann. Für mich persönlich ist das alleine schon eine unglaubliche Bereicherung und eine kostbare Erfahrung. Es ist eine Ehre, aber auch eine immense Herausforderung diesen Prozess mitbegleiten und mitgestalten zu dürfen.