Die Wissenschaft der Philologie erlebt gegenwärtig eine erstaunliche Neubewertung als Grundlage der Geistes-, Sozial- und Naturwissenschaften. Philologische Praktiken sind zentral für die Herausbildung kultureller Selbstverständnisse. Als solche sind sie sowohl global und universal als auch eigenständig und jeweils historisch bedingt. Weil jeder Kultur die eigenen philologischen Praktiken so allgegenwärtig wie selbstverständlich sind, kann erst ein transkultureller, vergleichender Ansatz die faszinierende globale Vielfalt alter Textkulturen offenbaren und zugleich neue Perspektiven auf das oftmals allzu Familiäre eröffnen: Wir erkennen unterschiedliche Methoden und Verfahren der Textüberlieferung; wir lernen, wie philologische Arbeit in spezifischen sozial-historischen Kontexten ganze Lebenswelten, Gesellschaften und religiöse Gemeinschaften prägt; und wir verstehen, wie Philologie selbst von diesen Umständen immer neu geformt wird, sei es in der Materialität und Interpretation von Texten, Weisen der Tradierung, oder in Fragen von Kanonbildung und Zensur. Philologische Praxis hat immer einen direkten Sitz im Leben.
Anne Eusterschulte, Martin Kern, und Glenn W. Most leiten als Herausgeber das globale Forschungsprojekt „Philological Practices: A Comparative Historical Lexicon“, das erstmals die Vielzahl und den Reichtum von mehr als 25 klassischen Philologien aus allen Teilen der Welt veranschaulicht. Anhand von Fallbeispielen und gestützt auf reiches Bildmaterial gewähren die Herausgeber in Gotha nun Einblicke in die vielfältigen Formen von Philologie in alten Textkulturen und stellen ihr transkulturelles Forschungsprogramm mit all seinen Herausforderungen zur Diskussion.