Herr Dr. Brauns, die Verschiebung des Vorlesungsbeginns, die Absage aller Veranstaltungen, die Einstellung des Präsenzbetriebs an der Uni Erfurt – hätten Sie so etwas zum Jahreswechsel, als die ersten Corona-Meldungen aus China kamen, für möglich gehalten?
Natürlich nicht. Und damit bin ich sicher in bester Gesellschaft. Wir befinden uns gerade in einer Situation, die es noch nie gab, mit der keine Hochschule in Deutschland jemals hat Erfahrungen sammeln können und auf die niemand wirklich vorbereitet war. Eine Situation, in der das, was am Morgen noch gilt, am Abend schon überholt sein kann. Eine Situation, in der viele Angst haben. Angst um ihre Gesundheit, ihre Familie, ihre finanzielle Sicherheit, ihre (berufliche) Zukunft. Existenzängste. Das ist eine Riesenherausforderung, der müssen wir uns jetzt stellen, wenn wir das hinbekommen wollen. Und zwar alle zusammen, weil jeder einen Beitrag leisten kann.
Im März zeichnete sich ab, dass unter den gegebenen Umständen, der Vorlesungsbeginn für das Sommersemester nach Ostern nicht realistisch ist. Die Thüringer Landespräsidentenkonferenz hat daraufhin am 13. März zusammen mit dem Wissenschaftsministerium eine Verschiebung auf mindestens 4. Mai beschlossen. Das war Schritt eins. Aber als dann auch die Schulen und Kitas, die Museen und Freizeiteinrichtungen schlossen und gleichzeitig die Zahl der Infizierten auch in Deutschland weiter stieg, hat das Präsidium am 18. März die Einstellung des Präsenzbetriebs auf dem Campus ab dem 20. März entschieden. Sie war damit eine der ersten Hochschulen in Thüringen, die sich zu einem so konsequenten Schritt entschlossen haben. Keine leichte Entscheidung, oder?
Nein, in der Tat nicht. Aber der Betrieb konnte nicht mehr aufrechterhalten werden. Denn wir stehen hier in der Verantwortung – für die Studierenden wie die Beschäftigten. Da ist auf der einen Seite die Gesundheit der Hochschulangehörigen. Hinzu kam, dass viele Probleme bei der Kinderbetreuung bekamen und in ein echtes Dilemma gerieten. Und überdies gab es mehr und mehr Rückkehrer aus Krisenregionen oder Kolleginnen und Kollegen mit entsprechenden Grippe-Symptomen, die vorsorglich in Quarantäne bleiben mussten – zum Glück hat sich bislang niemand infiziert. Und auf der anderen Seite stand und steht unsere Verantwortung für den Lehr- und Forschungsbetrieb an der Universität. Wir mussten hier genau abwägen. Aber am Ende war klar, wir müssen uns immer für die Gesundheit der Hochschulangehörigen entscheiden. Wir haben uns zwei Tage Zeit genommen, um den Campus „geordnet herunterzufahren“, damit kein Chaos entsteht. Das hat sich am Ende als sehr klug herausgestellt. Und wir hatten natürlich Glück, dass der Lehrbetrieb ohnehin schon weitgehend pausierte.
Als Leiter des Krisenstabs laufen seit Anfang März alle Fäden bei Ihnen zusammen. Was genau ist denn die Aufgabe des Krisenstabs – am Ende entscheidet doch immer noch das Präsidium…
Das ist schon richtig, aber solche Entscheidungen müssen gut vorbereitet sein, damit sie am Ende tragen. Und genau das tun wir im Krisenstab. Wir bewerten die aktuellen Informationen, beraten über mögliche Konsequenzen und geben in grundsätzlichen Fragen Empfehlungen an das Präsidium, das dann am Ende entscheiden muss. Wir vernetzen die verantwortlichen Personen und beantworten konkrete Fragen, die jetzt an die Uni herangetragen werden. Ob nun in Personal- oder Studierendenangelegenheiten, Fragen zur IT oder anderen organisatorischen Dingen. Deshalb sind im Krisenstab Kolleginnen und Kollegen aus verschiedenen Abteilungen und Bereichen vertreten, auch das Studierendenwerk ist immer beteiligt.
Welche Fragen müssen denn aktuell beantwortet, welche Probleme gelöst werden?
Es sind unzählige, wo fange ich da am besten an? Am Anfang stand natürlich die Frage, wie wir die Ansteckungsgefahr auf dem Campus so gering wie möglich halten und ob unsere Hygienemaßnahmen ausreichend sind. Das haben wir inzwischen geklärt, jetzt stehen eher solche Fragen im Raum wie:
- Welche Entscheidungen auf Landes- oder kommunaler Ebene haben Auswirkungen auf den Universitätsbetrieb?
- Welche landesinternen und länderübergreifenden Abstimmungen gibt es zur Gestaltung des nächsten Semesters und der Schulpraktika?
- Wie können wir mit dem Studierendenwerk akute soziale Härtefälle vermeiden und ggf. davon betroffene Studierende unterstützen?
- Wie können wir neue Professor*innen berufen, wenn die Berufungskommissionen aufgrund des Kontaktverbots nicht tagen können – immer auch vor dem Hintergrund, dass andere Unis womöglich schneller sind als wir und uns die Kandidaten abspringen könnten?
- Wie können wir innerhalb weniger Wochen das digitale Lehrangebot ausweiten?
- Wie können wir Mitarbeiter*innen, die im Ausland festsitzen, nach Hause holen?
- Wie schaffen wir es, die laufenden Baumaßnahmen aufrecht zu erhalten?
- Und ganz wichtig: wie schaffen wir es, alle Mitglieder und Angehörigen der Uni ausreichend zu informieren?
Und was ist die Schwierigkeit bei all dem?
Wir fahren nur auf Sicht und es ist dichter Nebel. Wir wissen nicht, was die nächsten Tage, Wochen, Monate bringen. Welche Maßnahmen werden bundesweit, landesweit aber auch kommunal noch ergriffen, um die Pandemie einzudämmen? Wie können und müssen wir dann in unserem Verantwortungsbereich darauf reagieren? Dabei können wir immer nur kommunizieren, was wir auch selbst wissen. Das finden manche nicht ausreichend. Da gibt’s dann auch Kritik, dass wir nicht schnell genug, nicht flexibel oder nicht transparent sind. Aber das gehört dazu, das müssen wir jetzt aushalten.
Sie sagten eben, eine Situation wie diese gab es an der Uni Erfurt bislang nicht – niemand konnte das üben. Wie gelingt es denn trotzdem in der gegenwärtigen Situation das Richtige zu tun?
Durch Zusammenarbeit und Vertrauen. Durch Menschen, die sich mit der Universität Erfurt identifizieren und das große Ganze stärker im Blick haben als ihre Partikularinteressen. Durch Menschen, die jetzt pragmatisch handeln. Wir versuchen, die wichtigen Prozesse am Laufen zu halten, neue technische Möglichkeiten zu nutzen und anderen bereitzustellen. Niemand guckt auf die „Feierabend-Uhr“. Und das, obwohl die Leute ja auch ihre privaten Sorgen und Nöte im Zusammenhang mit Corona haben. Dafür kann man vielen Kolleginnen und Kollegen nur Respekt zollen. Die machen das wirklich gut. Und das macht mir auch Mut für die Zukunft. Und dazu kommt das Vertrauen in die Leistungsfähigkeit unseres Gesundheitssystems und unseres Staates.
Apropos: Was wird denn bleiben, wenn die Krise überwunden ist?
Ich hoffe zum einen, dass wir gestärkt aus dieser Krise hervorgehen, weil wir es gemeinsam geschafft haben, diese Situation zu meistern. Vielleicht ergibt sich zum anderen auch die Chance, neue Prioritäten zu setzen. Viele Teile der Gesellschaft werden sich nach der Krise neu orientieren. Diese Prozesse sollten wir als geistes- und sozialwissenschaftliche Universität aktiv begleiten.