Luther und der Brief ohne Siegel. Zu Gast im Seminar "Die Reformation als Bildungsereignis"

Ich bin dann mal weg – mit diesem Titel könnte auch Martin Luthers wohl persönlichster Brief, den er am 28. Juli 1545 von Zeitz aus an seine Frau Katharina von Bora schickt, überschrieben sein. Was war passiert? Luther war aus seinem einst geliebten Wittenberg geflohen. Unerträglich wurden ihm die Prostitution, der Alkoholkonsum, die Lästereien, die zunehmend verrohenden Sitten.

Seiner Frau schreibt er, sie solle alles einpacken und ihm folgen sobald er einen passenden Ort für ihren gemeinsamen Lebensabend gefunden habe. Das war neun Monate vor seinem Tod. Was "Käthe" ihrem Gatten daraufhin brieflich erwidert haben könnte, das hat die Theater-Erzählerin Susanne Karge erarbeitet. Im Wintersemester 2016/17 ist sie zu Gast im Seminar "Die Reformation als Bildungsereignis", das Jörg Seiler, Professor für Kirchengeschichte an der Universität Erfurt, gemeinsam mit Frank-Joachim Stewing, Mitarbeiter der im Moment für das Lutherjahr vorzubereitenden Erfurter Sonderausstellung "Barfuß ins Himmelreich? Martin Luther und die Bettelorden", im Rahmen des Studium Fundamentale an der Universität anbietet. Ein Besuch…

Es ist eine kleine Gruppe Studierender, die Professor Seiler in diesem Seminar betreut. Schon etwas verwunderlich, dass das Thema angesichts des bereits eingeläuteten Reformationsjubiläums noch nicht auf breitere Resonanz stößt. Für Seiler lag es jedenfalls nahe, sich anlässlich "Luther2017" auch innerhalb des Studienangebots mit der Reformation zu beschäftigen. Das Thema aus Perspektive der politischen Geschichte noch einmal aufzurollen, kam für ihn aber nicht infrage. Unter dem Motto "Reformation als Bildungsereignis" soll es in seinem Seminar vielmehr um geistesgeschichtliche Entwicklungen im 16. Jahrhundert gehen: Aufbau der Hochschulen im Mittelalter, die Bibelübersetzung, die Entwicklung der medialen Kommunikation, die Rolle der Frau aber auch Lachen und Bier zur Reformationszeit sind Themen der wöchentlichen Treffen. Themen, die nicht genuin theologisch, sondern allgemein verständlich sind und die Luther und die Reformation als ein kulturgeschichtliches Phänomen betrachten. "Natürlich habe ich den Seminarteilnehmern zu Semesterbeginn erst einmal eine Einführung in Luthers Theologie gegeben: von seiner Kritik am spätmittelalterlichen Kirchenmodell über seine Suche nach dem gnädigen Gott bis hin zur Predigt als zentrales Motiv der Verkündung", betont Seiler. Darauf aufbauend sollen sich die Studierenden die Reformation jedoch anders erschließen, und zwar – so die Natur des Studium Fundamentale – ohne dass tiefgreifende theologische Kenntnisse vorausgesetzt werden. Heute lernen sie also Katharina von Bora näher kennen, besser gesagt ihr Mundwerk. Susanne Karge hat sich dafür nicht etwa als Luthers Frau verkleidet. Sie sitzt als sie selbst mit ihrem Laptop vor der Seminargruppe. Denn alles was nun zählt, ist der fiktive Briefwechsel, das geschriebene und (vor-)gelesene Wort – und was man daraus über die Reformation lernen kann. Und das beschränkt sich nicht darauf, wie selbstbewusst, bodenständig und für ihren Stand unüblich gebildet Käthe wohl war. In der folgenden Diskussion wird den Studierenden beispielweise auch deutlich, wie ein Reformatorenhaushalt aussah, in dem Katharina von Bora jeden Abend 40 Mäuler zu stopfen hatte und den sie als Gärtnerin, Bierbrauerin, Köchin, Finanzministerin und Hausverwalterin schmiss. Hier hatte sie das Sagen, auch an "Männergesprächen" beteiligte sie sich. Was das über die Beziehung von Mann und Frau zu Beginn des 16. Jahrhunderts aussagt? "Im Gegensatz zur gesellschaftlichen Emanzipation, gab es die gelebte Emanzipation der Frau im familiären Bereich schon vor 500 Jahren", stellt Karge fest. Luther war deshalb aber keineswegs der "Befreier der Frau", als der er manchmal dargestellt wird. Jörg Seiler ist es wichtig, dass die Studierenden inmitten des Luther-Hypes lernen, zu differenzieren, was die Reformation tatsächlich bedeutete und noch bedeutet. "Ich hege für Luthers Theologie große Sympathien", sagt der Kirchenhistoriker. "Aber irgendwann in den 1520er-Jahren hört er auf, theologisch weiterzudenken." Schon da wird er zu einer Art Ikone – die er bis heute ist und als die er gern für alle möglichen gesellschaftlichen Errungenschaften herangezogen wird, sei es Demokratie oder Toleranz. Dabei wäre Luther für die heutigen Zeitgenossen eine wahre Herausforderung, weiß Seiler. "Ich würde ihn nicht als Freund haben wollen", scherzt er mit den Studierenden angesichts des ihm bekannten Briefverkehrs zwischen Luther und seinen Zeitgenossen. Sein Brief, der Ausgangspunkt der heutigen Sitzung und für Susannes Karges Lesung ist, bildet dabei aber eine Ausnahme. Er zeigt den Reformator verletzlich, angreifbar, an seinem Lebenswerk zweifelnd, ja sogar voller Zuneigung. Ganz ungewöhnlich für die Briefkultur der Reformatoren, zumal Luther den Brief nicht versiegelt, bevor er ihn Caspar Cruciger übergibt, ein enger Vertrauter Luthers in Wittenberg und einer der wichtigsten Köpfe unter den Wittenberger Reformatoren. "Das war politisches Kalkül und strategisch geschickt gemacht von Luther", erklärt Stewing den Studierenden. "Die Botschaft war klar: Lies mal, bevor ihn Käthe bekommt! Und seine Rechnung geht auf. Es gibt einen Aufschrei in Wittenberg: Luther ist weg und will nicht wiederkommen! Melanchthon reist aufgebracht zum Landesherrn nach Torgau und sie setzen alles daran, die Missstände, die Luther im Brief anprangert, zu beseitigen." Sie schaffen es, Luther zurück nach Wittenberg zu holen, wo er seinen Lebensabend mit Katharina von Bora verbringt – jener landadeligen Nonne, die ihn in Susanne Karges Interpretation in seinem Zweifel auffängt, die ihm auf Augenhöhe begegnet und ihn immer wieder ermahnt, seine Worte und Taten in Einklang zu halten.  

So bietet das Seminar in dieser Sitzung über Martin Luthers wohl persönlichsten Brief und die fiktiven Antworten seiner Frau sowie deren Einbettung in den historischen Kontext einen kulturgeschichtlichen Einblick in Themen wie Briefkultur, Alkoholkonsum, Frauenbilder, Sitten und Bräuche der Reformationszeit. Im Kontext des gesamten Semesterprogramms vermittelt es den Studierenden die Einsicht, wie sehr sich im 16. Jahrhundert Religion und Gesellschaft verändert haben. Professor Seiler geht es hierbei nicht um Einzelwissen, sondern um ein Verständnis des Transformationsprozesses, der sich ab dem Ende des 15. Jahrhunderts vollzogen hat, als die Gesellschaft begann, sich in vielen Bereichen neu zu strukturieren, und als Religionsauseinandersetzungen ein wichtiger Auslöser und Beschleuniger dieser Entwicklungen waren. "Für mich hat das Seminar Erfolg, wenn die Studierenden anschließend verstanden haben, dass mit dem 16. Jahrhundert das Mittelalter endet und so etwas wie Neuzeit beginnt. Und das am Beispiel der Reformation zu lernen, ist gerade in diesem Jahr nur plausibel."

Abb.: Postkarte der Universität Erfurt