Jean-Pierre Félix-Eyoum und Florian Wagner (Universität Erfurt): "Das verdrängte Politikum. (Post-)Koloniale Migration nach Deutschland"

Im Dossier "Restitution und Postkolonialismus. Zeitgeschichtliche Perspektiven auf die Debatten der Gegenwart", herausgegeben von Sophie Genske und erschienen auf zeitgeschichte-online.de, beschäftigt sich Florian Wagner (Akademischer Rat für Europäische Geschichte in Globaler Perspektive des Historischen Seminars) zusammen mit Jean-Pierre Félix-Eyoum mit dem Thema: "(Post-)Koloniale Migration nach Deutschland".

Im 20. Jahrhundert fanden es die Deutschen kaum verwunderlich, dass es wenig Zuwanderung aus den (ehemaligen) Kolonien gab. Aus Politik, Gesellschaft und Wissenschaft kam niemand auf die Idee, überhaupt die Frage nach (post-)kolonialer Einwanderung zu stellen. Die ausbleibende Verwunderung lässt sich durch die Selbstverständlichkeit erklären, mit der man annahm, Weiß-Sein sei eine Bedingung für Deutschsein und die deutsche Nation „kein Einwanderungsland” (Zitat Helmut Kohl, 1992). Beim Blick nach Frankreich und Großbritannien hätte man zwar ein Defizit bei der nachkolonialen Einwanderung nach Deutschland feststellen können (1974 gab es in Frankreich regulär über eine Million Menschen allein aus den ehemaligen afrikanischen Kolonien). Das Gegenteil war jedoch der Fall. Man bemühte in Deutschland den Vergleich mit Frankreich und Großbritannien lediglich, um zu behaupten, dass das deutsche Kolonialreich nur kurze Zeit existierte und zeitlich zu weit zurück lag, um einen dauernden Einfluss zu hinterlassen. Der kolonialen Amnesie in der Bundesrepublik folgte die Verdrängung (post-)kolonialer Migration. Ebenso wie den kulturellen Einfluss, ignorierten die deutschen Regierungen den demographischen Einfluss der eigenen kolonialen Vergangenheit – oder leugneten ihn sogar. In Statistiken über Ausländer:innen in Deutschland gab es wie selbstverständlich keine Kategorie „Menschen aus den (ehemaligen) Kolonien“. Aber auch ansonsten tauchen Menschen aus Afrika oder Asien selten auf und wurden meist in der Rubrik „Sonstige“ aufgeführt. Dabei waren Migrant:innen aus den ehemaligen Kolonien in Deutschland schon immer sehr präsent, wenn nicht numerisch so doch gesellschaftspolitisch. Sie und ihre Nachkommen machten schließlich die Beschäftigung mit der Kolonialvergangenheit auch zu einem Thema in der deutschen Gesellschaft. Allerdings ging es ihnen nicht um eine leicht überwindbare und rein „deutsche Kolonialvergangenheit“, sondern eher um einen globalen Kampf gegen (post-)koloniale Strukturen, Diskriminierung, Rassismus und Ungerechtigkeit. Auch wenn man sie keineswegs auf diese aktivistische Rolle reduzieren kann, soll hier vorrangig gezeigt werden, wie sie die Kolonialvergangenheit als andauernde Gegenwart entlarvten.

Jean-Pierre Félix-Eyoum und Florian Wagner, Das verdrängte Politikum. (Post-)Koloniale Migration nach Deutschland, in: Zeitgeschichte-online, Februar 2021, URL: https://zeitgeschichte-online.de/themen/das-verdraengte-politikum

 

Porträt der Familie Oesterle aus Aalen
Rudolf Duala Manga Bell (ganz rechts) und Tube Meetom (links) lebten von 1891 bis 1895 in Aalen bei der Familie Oesterle (Mitte)und später in Ulm. Foto: Jean-Pierre Félix-Eyoum.