Liebe Angehörige der Fakultät,
vergangene Wochen waren Stipendiaten und Lehrende des Theologischen Forschungskollegs beim Treffen unserer European Graduate School „Theology in religious, cultural and political Processes of Transformation“ bei einem mehrtägigen Treffen mit den Kollegsmitgliedern aus Löwen und Salzburg zum Abendgottesdienst in St. Agnes in Köln.
Wir waren dort eingeladen bei engagierten und fragenden Katholik*innen, und begegneten etwa Frauen des Vereins „um-steuern. Robin Sisterhood e.V.“, die kirchlich missbrauchten Menschen Zeit, Zuhören, Akzeptanz und Unterstützung schenken.
Das war bewegend.
Bewegend war auch, dass eine ältere Gottesdienstteilnehmerin zu uns kam. Die Gastgeber*innen hatten Unmengen Pizza für uns gekauft. Und einige von uns luden nun die ältere Dame ein, bei uns zu bleiben und mit uns zu essen. Sie tat es.
Mir kamen die Studienanfänger*innen, die Fakultät, das Kollegium und unser Bischof in den Sinn. Denn diese Frau — wie sie Pizza essend bei uns war und Momente eines Lebensabends mit uns teilte — wurde für mich ein Sinnbild, wie eine Apostelin, eine still Mahl habende Sprecherin, die sich nicht beim Hinausgehen weggeduckt hatte, sondern da und ansprechbar war und in dieser ihrer schweigend mampfenden Präsenz mir etwas sagte.
Von diesem inneren Wahrnehmen her kamen mir die Ermutigungen für Sie, für mich, für uns alle zum Semesterbeginn:
- Ducken wir uns nicht angst- und sorgenvoll, verunsichert und entmachtet weg, weil Krieg ist und dieser unseren Alltag prägt. Die wenige Kraft, die wir haben, ist vervielfältigt durch Gott, der Kraftstoff ist, also Sprit, für jede und jeden von uns, Feuerzunge und raumgebend. Dergestalt begeistert können wir frieren, Wohnung teilen, solidarisch sein und gerecht. Dies nicht zu tun und zu sein, wäre fatal. Ich wünsche uns hierzu Kraft, Gelassenheit und Entschiedenheit.
- Ducken wir uns nicht theologisch weg, wenn viel zu flach von Gott und Kirche gedacht oder verkündet und derzeit leider auch viel zu oft amtlich gelehrt wird. Deswegen sind wir doch hier in Erfurt, beim Studieren und Streiten – seit 70 Jahren, seit 633 Jahren, seit heute. Und immer: für heute. Wissen, Erkenntnis; Erfahrung und Berührtsein verpflichten zum Zeugnis. Ich wünsche uns hierzu Aufrichtigkeit und Mut.
- Ducken wir uns nicht frustriert weg, wo Demagogie und Hass, Selbstherrlichkeit und Stigmatisierung unsere Straßen und Heimaten weiterhin und immer mehr verseuchen. Der Lüge, deren Vater der Teufel ist, ist der Kampf anzusagen. Dem Irrgarten teuflischer Abwertung des/der Anderen, steht der Lustgarten eines Gottes gegenüber, dessen Antlitz im Nächsten Menschenfreundlichkeit spiegelt. Ich wünsche uns Klarheit zum Widerstand und den entduckten Aufstand, wo Wahrheit manipuliert und Menschen beschädigt werden.
Ducken Sie sich nicht weg und stehen sie – aufgerichtet durch und in Gott – aufrecht in unserer Welt. Seien Sie aufrichtig, tanken Sie auf und tun gestärkt das Gute: im Studium, im Alltag, in Gesellschaft und im Privaten. Erst dann dürfen wir einander ein gutes Semester wünschen.
Ich wünsche Ihnen auch im Namen der Kolleginnen Julia Knop und Brigitte Kanngießer, dass Sie mutig, gelassen, entschieden, klar, kraftvoll und behütet seien in den Monaten des Wintersemesters 2022/23. Und begleitet von Gottes Segen.
Jörg Seiler