Leben und Werk des baltisch-deutschen Schriftstellers und Publizisten Garlieb (Helwig) Merkel (1769–1850) sind aus zwei Perspektiven international bedeutsam: Aus Sicht der Germanistik gilt Merkel aufgrund seiner Jahre in Leipzig, Jena, Weimar, Berlin und Frankfurt/O. (1796–1806) als interessante, dabei aber ambivalente Figur, weil er einerseits ein befreundeter Mitstreiter von namhaften Schriftstellern wie Herder und Wieland, zugleich aber einer der hartnäckigsten Widersacher der Jenaer Frühromantiker wie auch Goethes und Schillers gewesen ist. Aus Sicht der Baltisten und Osteuropa-Historiker steht Merkel als wirkungsvollster Vertreter der (Spät-)Aufklärung in Livland in hohem Ansehen, vor allem im Baltikum selbst, weil er sich erst durch seine aufsehenerregende Streitschrift „Die Letten vorzüglich in Liefland am Ende des philosophischen Jahrhunderts“ (1796), später durch seine historischen Abhandlungen und sein jahrzehntelanges publizistisches Wirken in Riga als beredter Fürsprecher der autochthonen Bevölkerung große Verdienste um Selbstbestimmung, Sprache, Geschichte und Kultur der baltischen Völker erworben hat. Da Merkel bis heute vor allem in Lettland, aber auch in Estland, nicht nur als Aufklärer vom Rang eines Johann Gottfried Herder, sondern auch als wegweisende Figur in der National- und Landesgeschichte gilt, ist absehbar, dass sein 250. Geburtstag am 1. November 2019 der Anlass für eine große internationale wissenschaftliche Konferenz nebst einer allgemein ansprechenden Ausstellung sein wird. Als Grundlage für Konferenz und Ausstellung sowie als deutscher Beitrag zu diesem Jubiläum soll nun im Vorfeld der umfangreiche und weitgespannte Briefwechsel Merkels mit seinen deutschen wie livländischen Freunden und Korrespondenzpartnern ediert werden.
Für dieses Vorhaben kann auf sehr substanzielle, bislang ohne Drittmittel betriebene Vorarbeiten aufgebaut werden: Bis dato sind bereits rund 360 Briefe von und an Merkel in rund 40 Bibliotheken und Archiven in zehn Ländern lokalisiert, reproduziert und vorläufig transkribiert worden. Dieses Corpus wird nun vom 1. September dieses Jahres an komplettiert und kommentiert, um dann in Form einer zweibändigen Ausgabe (mit Brief- und Kommentarband) publiziert werden zu können, und zwar in der Bremer edition lumière.
„Unser Bild von Wesen und Geschichte der Weimarer Klassik und der Jenaer Frühromantik ist unvollständig, wenn man nicht auch diejenigen Zeitgenossen in den Blick nimmt, die Goethe und Schiller, den Schlegels und Fichte kritisch gegenüber standen“, erläutert Prof. Dr. Martin Mulsow das Editionsvorhaben. „Garlieb Merkel war, neben seinem zeitweiligen Mitstreiter August von Kotzebue und seinem langjährigen Korrespondenzpartner Carl August Böttiger, vorübergehend der eifrigste Vertreter der ‚kleinen Opposition‘ an der Ilm. Sein im Rigaer Staatsarchiv liegender Teilnachlass ist reich an Briefen deutscher Schriftsteller und Gelehrter, die mehrheitlich unpubliziert sind, dabei aber Seiten der deutschen Literatur- und Geistesgeschichte zu erhellen vermögen, die in Vergessenheit geraten sind. Seine Korrespondenz ist zugleich ein substanzieller Beitrag zur Geschichte der Universität Jena, an der in der ‚Goethezeit‘, neben Merkel, so viele Balten wie an keiner anderen deutschen Hochschule studiert haben.“
Das in Kooperation mit baltischen Wissenschaftlern konzipierte internationale Projekt knüpft zeitlich und inhaltlich eng an die Forschungen an, die in Jena 1998–2010 im Rahmen des DFG-Sonderforschungsbereiches 482 „Ereignis Weimar-Jena. Kultur um 1800“ und dann 2008–2013 seitens des Forschungsverbundes „Laboratorium Aufklärung“ betrieben wurden, und verbindet sich mit dem aktuell vom Freistaat Thüringen für fünf Jahre geförderten, auf Schloss Friedenstein angesiedelten Projekt „Gotha um 1800: Natur, Wissenschaft, Geschichte“.
Weitere Informationen / Kontakt:
Prof. Dr. Martin Mulsow
martin.mulsow@uni-erfurt.de